Weisheit ist eine seltene und außergewöhnliche Eigenschaft, und den meisten Menschen wird es nicht vergönnt sein, sie in hohem Maße zu erwerben. Deshalb müssen Weisheitsforscher immer wieder hinterfragen, inwieweit ihre Vorstellungen von Weisheit vielleicht nur ihren persönlichen Vorstellungen von optimaler Entwicklung wiedergeben. Judith Glück stellt fest: „Ab den 1980er-Jahren begann die Psychologie, sich für das Thema Weisheit zu interessieren. Ein wichtiger Grund dafür war zweifellos das zunehmende wissenschaftliche Interesse am Altern überhaupt.“ In Zukunft wird ein immer größerer Anteil der Bevölkerung über 60, 70, ja über 100 Jahre alt sein. Mit dieser Erkenntnis wuchs auch das wissenschaftliche Interesse daran, was das Altern eigentlich mit den Menschen macht, ob und wie es das Denken, das Gedächtnis und die Persönlichkeit verändert. Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Seine Kompetenzen kann ein Mensch durch Erfahrungslernen lebenslang steigern
Wissenschaftliche Studien belegen immer wieder, dass viele Menschen das Gefühl haben, sich im Laufe ihres Erwachsenenlebens durch ihre Erfahrungen deutlich weiterentwickelt zu haben. Obwohl die wenigsten Menschen sich selbst als weise bezeichnen würden, haben doch viele das Gefühl, einiges aus dem Leben gelernt zu haben. Genau dieses Lernen aus dem Leben bildet für Judith Glück auch die Grundlage für die Entwicklung von Weisheit. Allerdings sind nicht alle Erkenntnisse, die ein Mensch erwirbt, weise Erkenntnisse.
Judith Glück erklärt: „Um Weisheit zu entwickeln, braucht es eine besonders intensive und selbstkritische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Lebens.“ Dort, wo Menschen beruflich tätig sind oder sich privat engagieren, können sie ihre Kompetenzen durch Erfahrungslernen lebenslang steigern. Außerdem werden viele Menschen ab einem gewissen Alter gelassener und lernen sich zu erlauben, was ihnen guttut. Sie entwickeln in ihren Beziehungen das optimale Gleichgewicht aus Autonomie und Nähe.
Weisheit ist Expertenwissen über die fundamentalen Themen des menschlichen Lebens
Diese Erkenntnisse über die Vielschichtigkeit psychologischer Entwicklungen im Erwachsenenalter führten zu den ersten Versuchen, sich mit der Psychologie der Weisheit auseinanderzusetzen. Eine wichtige Basis dieser Überlegungen bildete damals die hochaktuelle Forschung zum sogenannten Expertenwissen: Wie ist es möglich, dass viele Menschen in den Bereichen, die sie ihr Leben lang interessiert und beschäftigt haben, auch noch im hohen Alter ausgezeichnet funktionieren? Die Erklärung liegt in der lebenslangen Übung.
Der Psychologe und Gerontologe Paul B. Baltes wagte sich als Erster daran, über Weisheit nicht nur theoretisch nachzudenken, sondern sie auch tatsächlich empirisch zu erforschen, und zwar indem er sie als Expertenwissen in einem ganz bestimmten Bereich definierte: Weisheit sei Expertenwissen über die fundamentalen Themen des menschlichen Lebens. Julia Glück erläutert: „Weise Menschen haben sich im Laufe ihres Lebens intensiv mit den Grundlagen der Existenz beschäftigt, sie haben sich immer wieder mit ihren eigenen Erfahrungen, aber auch mit denen anderer Menschen auseinandergesetzt und dadurch ein tiefes und breites Wissen erworben, etwa darüber, wie verschieden menschliche Erfahrungen, Einstellungen und Lebenssituationen sein können und wie unterschiedlich Menschen deshalb manchmal die gleiche Situation erleben. Quelle: „Weisheit“ von Judith Glück
Von Hans Klumbies