Menschen mit einem unreifen Selbst neigen zu Schwarmverhalten

Unter „Schwarmmuster“ versteht die Psychologie ein Gruppenverhalten, in dem Gesetze wirksam sind, die für Schwärme gelten. Georg Milzner erläutert: „In diesem Muster ist die komplexe Persönlichkeit mit ihren Werten und inneren Richtschnüren, ihrem Wollen und ihrem Sehnen vorübergehend außer Kraft gesetzt.“ Als wären alle jene komplexen Steuerungsmechanismen, die sonst ein menschliches Leben reich machen, schlagartig deaktiviert, handelt ein Mensch aus der Masse heraus, die ihn gerade umgibt. Die Begriffe „Schwarmverhalten“ und „Schwarmintelligenz“ haben in den letzten anderthalb Jahrzehnten einen Hype erlebt. Schwärme gibt es auf der Erde in großer Zahl, und ihre Vielfalt ist beeindruckend. Es scheint sich also um eine bewährte Struktur zu handeln, die auf verschiedenen Ebenen Vorteile gewährt. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

Schwärme haben keine Führer

Welche Vorteile aber könnten dies sein? Da ist zum einen die Menge. Schwärme sind keine kleinen Populationen, sondern große, die eine verbindende Ordnung brauchen. Sodann die Notwendigkeit, größere Areale zu besetzen, die nur durch Formen der Arbeitsteilung möglich ist, wie man sie von Bienen und Ameisen kennt. Endlich die kleine Anzahl von Kommunikationseinheiten: Strukturen, wie sie in Schwärmen sichtbar werden, müssen sich auf bewährte Sets von Regeln berufen können.

Schwärme haben, anders als Herden oder Rudel, keine Führer, sie verhalten sich als Gesamtheit. Alle sind miteinander, kommunizieren aber erstaunlich wenig. Und doch bilden sie so etwas wie einen Verband, etwas, das zusammengehört. Es ist dieser Umstand, der das Schwarmverhalten für Menschen, die nur ein unreifes Selbst besitzen, so attraktiv macht. Denn in Gruppen, die schwarmähnlich agieren, braucht man kein tieferes Selbstgefühl und vermag gleichzeitig eine wesentliche Bedürfnisebene zu befriedigen, nämlich die nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft.

Eine individuelle Haltung kommt im Schwarm nicht vor

Heutzutage ist ein Schwarmverhalten vielfältig zu beobachten. Georg Milzner nennt Beispiele: „Ob Flashmob auf der Straße oder Shitstorms im Internet, Wartende vorm Apple-Store oder Hineinströmende beim Festival.“ Überall werden Schwärme erzeugt und gelenkt. Und das Internet hat neue Möglichkeiten erschaffen, schwarmähnliche Strukturen zu erschaffen. Soziale Foren bieten immer wieder Kollektivaktionen an, dabei reicht die Bandbreite vom öffentlichen Gruppenschminken über politische Demonstrationen bis hin zum kulturellen Event.

Was ist der Grund, sich in solchen Foren zu versammeln? Vordergründig sind es gemeinsame Interessenlagen, aber untergründig ist es etwas anderes. Das Bedürfnis, die eigene Isolation zu überwinden und an einem Gemeinschaftsgefühl teilzuhaben, bei dem seelisch wie geistig nichts gefordert wird. Denn im Schwarm wird die Selbstaufmerksamkeit des Einzelnen vom großen Ganzen abgelöst. Eine individuelle Haltung kommt im Schwarm nicht vor. Was für ein individuelles Wesen, das seine Eigenheiten schätzt, abstoßend klingen muss, hat für diejenigen, denen neben einem Gefühl für die innere Tiefe auch Ruhe und Halt in sich selbst fehlen, etwas Verführerisches. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner

Von Hans Klumbies