Die Französische Revolution hatte weltweit immense Auswirkungen auf das Verständnis von Identität. Obwohl der Begriff damals noch nicht Verwendung fand, lassen sich doch fortan deutlich zwei Phänomene der Identität unterscheiden. Diese gehen von unterschiedlichen Prämissen aus. Francis Fukuyama erklärt: „Eine Gruppierung verlangte die Anerkennung der Würde von Individuen, während die andere die Anerkennung der Würde von Kollektiven in den Vordergrund rückte.“ Die erste, individualistische Fraktion ging von der Voraussetzung aus, dass alle Menschen frei geboren und in ihrem Streben nach Freiheit gleichwertig sind. Die Schaffung politischer Institutionen sollte allein dem Ziel dienen, so viel wie möglich jener natürlichen Freiheit zu erhalten, soweit sie im Einklang mit der Notwendigkeit eines gemeinsamen Gesellschaftslebens stand. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Liberale Demokratien folgten diesem Gedanken und stellten den Schutz der individuellen Autonomie aller Bürger in den Mittelpunkt ihrer moralischen Projekte. Die menschliche Würde beruht auf der Fähigkeit eines Individuums, angemessene moralische Entscheidungen zu treffen, sei es aus religiösen oder weltlichen Gründen. Der Gedanke, dass die Würde in der moralischen Entscheidungsfähigkeit des Menschen wurzelt, ist politisch anerkannt.
Im Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes von 1949 heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Allerdings definiert diese Verfassung präzise, was Menschenwürde ist. Kaum ein Politiker der westlichen Welt könnte im Zweifelsfall ihre theoretische Grundlage erklären. Die Benutzung des Wortes „unantastbar“ impliziert, dass alle anderen Rechte diesem Grundrecht untergeordnet sind.
Die moralischen Regeln sind böse
Die liberale politische Tradition institutionalisierte eine Variante der individuellen Autonomie, indem sie allen Bürgern gleiche Rechte zusprach. Doch Jean-Jacques Rousseaus Version der Autonomie deutete auf etwas Profunderes und Reichhaltigeres hin als auf „bloße“ politische Teilhabe. Er entdeckte in sich einen „Überfluss“ der Gefühle, den die Gesellschaft unterdrückte. Sein unglückliches Bewusstsein war zutiefst entfremdet von der Gesellschaft und rang um Befreiung. Hier handelte es sich m einen Aspekt der moralischen Umwertung, die mit Martin Luther begonnen hatte.
Jean-Jacques Rousseau trat in Martin Luthers Fußstapfen, kehrte dessen Bewertung jedoch um. Das innere Selbst ist gut oder hat zumindest das Potential, gut zu sein. Böse sind vielmehr die moralischen Regeln der Umgebung. Für Jean-Jacques Rousseau besteht Freiheit nicht allein in der Möglichkeit, moralische Regeln zu akzeptieren, sondern auch darin, den Gefühlen und Emotionen, die das wahre innere Selbst ausmachen, uneingeschränkt Ausdruck zu verleihen. Solche Gefühle und Emotionen können häufig am besten in der Kunst wiedergegeben werden. Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama
Von Hans Klumbies