Wie Sokrates bemerkt, beginnt der Weg zur Weisheit mit der Selbsterkenntnis. Er fordert: „Stell Dir die Frage: Wer bin ich?“ Damit ist nicht nur die biologische Art und Familienangehörigkeit gemeint. Gemeint sind auch nicht nur die kulturelle Zugehörigkeit und auch nicht die soziale. Nein, jeder soll sich nach seiner tiefen inneren Identität fragen. Nur dann wird man laut Frédéric Lenoir herausfinden, dass das Bild, das andere von einem haben und das man anderen vermitteln möchte, seinem echten Wesen vielleicht nicht entspricht. Dass man nicht voll und ganz dem eigenen Selbst entspricht. Diese Selbstbefragung ist sehr wichtig, denn keine Suche nach der Weisheit kann auf der Grundlage eines „falschen Selbst“ gelingen. Die Unkenntnis seiner selbst, seiner inneren Natur sowie seiner wahren Sehnsüchte verhindert den Weg zur Weisheit. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.
Baruch de Spinoza ist ein Pionier der Tiefenpsychologie
Richtig kennen lernt sich ein Mensch durch intensive Selbsterforschung. Dazu zählen genaues Beobachten der eigenen Empfindungen, Gedanken und Worte. Außerdem die Prüfung der persönlichen Handlungen, emotionalen Reaktionen, Wünsche und Abneigungen. Baruch de Spinoza ist für Frédéric Lenoir nicht nur einer der größten Philosophen aller Zeiten, er ist auch ein Pionier der Tiefenpsychologie. In seiner „Ethik“ erklärt er, dass jeder lebende Organismus sich darum bemühe, in seinem Wesen beständig zu sein und zu wachsen.
Baruch de Spinoza stellt fest, dass ein Mensch jedes Mal, wenn er seine Macht zu handeln vergrößert, wenn er sich gemäß seiner eigenen einzigartigen Natur selbst erfüllt, voller Freude ist. Umgekehrt versinkt er jedes Mal, wenn sich seine Macht zu handeln verringert, oder wenn er nicht gemäß seines inneren Wesens handelt, in Traurigkeit. Freude und Traurigkeit sind somit zwei fundamentale Gefühle. Sie zeigen einem Menschen an, ob er seinem Selbst entspricht oder nicht.
Die aktive Freude gründet sich auf der Wahrheit
Baruch de Spinoza geht davon aus, dass jedes Gefühl an eine Idee, an einen Gedanken geknüpft ist, und erklärt, dass man auch falsche Freuden erleben kann, die er „passive Freuden“ nennt. Das sind Freuden, die an „unangemessene“, irregeleitete Ideen geknüpft sind. Sie verwandeln sich immer in Traurigkeit, sagt Baruch de Spinoza. Das geläufigste Beispiel ist die Leidenschaft der Liebe. Frédéric Lenoir erklärt: „Wir durchleben intensive Freude, weil wir eine Person getroffen haben, mit der wir eine leidenschaftliche Liebe teilen.
Mit der Zeit wird dann einem allmählich klar, dass man in einer Illusion gelebt hat, dass der andere nicht der ist, der er vorgab zu sein, oder den man in ihm sehen wollte. So verwandelt sich die freudige in eine traurige Leidenschaft. Manchmal wird die Liebe sogar zu Hass. Im Gegensatz dazu ist eine „aktive“ Freude eine Freude, die an eine „angemessene“ Idee gebunden ist. Sie gründet sich auf der Wahrheit und das Objekt der persönlichen Liebe oder Begierde passt sich tatsächlich der einzigartigen Natur des Selbst an. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir
Von Hans Klumbies