Unter Demokratie versteht Ernst Fraenkel ein Regierungssystem, das auf der Annahme beruht, die Förderung des Gemeinwohls sei am besten zu erreichen, wenn allen Bürgern des Gemeinwesens eine gleiche und optimale Mitwirkung bei der Bildung des Gemeinwillens gewährleistet wird. Ernst Fraenkel stellt sich allerdings die Frage, ob und wieweit die öffentliche Meinung das geeignete Mittel darstellt, um dieses Ziel zu erreichen. Der Historiker Hermann Oncken definiert die öffentliche Meinung verkürzt wie folgt: „Öffentliche Meinung ist ein Komplex von gleichartigen Äußerungen größerer oder geringerer Schichten eines Volkes über Gegenstände des öffentlichen Lebens, bald spontan hervorbrechend, bald künstlich gemacht.“ Für Ernst Fraenkel besteht jede Meinung aus purem Meinen und auf einem für wahr halten begründet. Sie beruht weder auf Glauben noch auf Wissen, weder auf Erkenntnis noch auf Offenbarung.
Ohne Öffentlichkeit sind alle anderen Kontrollen bedeutungslos
Meinungen und Ansichten werden laut Ernst Fraenkel bereits deshalb als richtig und als verpflichtend anerkannt, weil sie offenbar von jedermann geteilt werden und so einleuchtend sind, dass es sich scheinbar erübrigt, über sie zu reflektieren. Wort und Begriff der öffentlichen Meinung stellen sich gleichzeitig mit der Vorstellung ein, dass ihr ein Eigenwert beizumessen sei. Für Jeremy Bentham, der Begründer des klassischen Utilitarismus, ist die Öffentlichkeit von großer Bedeutung: „Ohne Öffentlichkeit sind alle anderen Kontrollen bedeutungslos; im Vergleich zur Öffentlichkeit sind sie belanglos.“
Öffentlich ist, was nicht geheim ist. Öffentlichkeit ist aber auch, was nicht privat ist. Es ist auch offenkundig, dass das Prinzip, alle staatlichen Betätigungen sollten sich in voller Öffentlichkeit abspielen, nicht ausnahmslos erfüllt werden kann. Für Ernst Fraenkel ist es jedoch unbestreitbar, dass die Anerkennung dieses Grundsatzes den Ausgangspunkt der modernen rechtsstaatlichen Demokratie darstellt. Die Glorifizierung der öffentlichen Meinung als Schrittmacherin irdischer Glückseligkeit ist für das progressive westliche Denken des 18. und 19. Jahrhunderts charakteristisch.
Der Liberalismus betrachtet die öffentliche Meinung als Königin der Welt
Die Vorstellung, dass das Gemeinwohl am besten gefördert wird, wenn es aus einem autonomen Prozess der öffentlichen Meinungsbildung hervorgeht, beruht auf einer doppelten Voraussetzung: Erstens, dass alles, was sich autonom im gesellschaftlichen Bereich abspielt, notwendigerweise nicht geheim, sondern öffentlich erfolgt. Zweitens, dass, weil es sich autonom-öffentlich im gesellschaftlichen Raum abspielt, es sehr viel besser geeignet ist, dem Gemeinwohl zu dienen, als wenn die von den Organen des res publica selbst besorgt wird.
Der Herrschaftsanspruch einer zugleich öffentlichen und autonomen Meinung geht davon aus, dass diese sich zwar auf Angelegenheiten der Gesamtheit bezieht, jedoch ohne Mitwirkung des Staates, der Kirche oder anderer Organisationen zustande gekommen ist. Eine von der res publica inspirierte, manipulierte, lancierte und dirigierte Meinung nennt Ernst Fraenkel Propaganda. Zudem weist er darauf hin, dass der Gedanke, die öffentliche Meinung solle die Königin der Welt sein, nicht demokratischen, sondern liberalen Vorstellungen entstammt.
Kurzbiographie: Ernst Fraenkel
Ernst Fraenkel, geboren 1898, studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main. Er promovierte bei Hugo Sinzheimer. Gemeinsam mit Franz Neumann war er von 1927 bis 1933 Rechtsanwalt in Berlin. Seine Anwaltstätigkeit setzte er nach 1933 unter eingeschränkten Bedingungen in Berlin bis 1938 fort, als er in die USA fliehen musste. Seit 1951 war Ernst Fraenkel Dozent, von 1953 bis 1967 Professor an der Deutschen Hochschule für Politik, dem späteren Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist einer der Mitbegründer der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ernst Fraenkel starb 1975 in Berlin.
Von Hans Klumbies