Was für das Gespräch gilt, trifft gleichermaßen für das Lesen zu, das laut Erich Fromm eine Zwiesprache zwischen Autor und Leser ist oder sein sollte. Selbstverständlich ist es beim Lesen, ebenso wie beim Gespräch wichtig, was jemand liest oder mit wem er redet. Einen kunstlosen, billig gemachten Roman zu lesen ist eine Art des Tagträumens und eine Flucht aus der Gegenwart, die mitunter schmerzt, vor allem in den Zeiten der Wirtschaftskrise. Dieser Lesestoff gestattet keine produktive Reaktion des Lesers, der Text wird geschluckt und verdaut wie eine bedeutungslose Fernsehsendung oder die Kartoffelchips, die der Mensch beim Zuschauen isst.
Die meisten Romane werden nur konsumiert
Erich Fromm behauptet, dass man dagegen einen Roman von Honoré de Balzac produktiv und mit innerer Anteilnahme lesen kann, was für ihn ein Lesen in der Weise des Seins bedeutet. Doch auch solche Bücher werden laut Erich Fromm wahrscheinlich meist in einer Konsumhaltung, das heißt in der Weise des Habens gelesen. Da seine Neugier erregt ist, will der Leser die Handlung wissen, er will erfahren, ob der Held stirbt oder am Leben bleibt, ob sich die junge Frau dem Mann hingibt oder nicht.
Der Roman ist in diesem Fall eine Art Vorspiel, das seine Hormone zum Tanzen bringt, der glückliche oder unglückliche Ausgang ist der imaginäre sexuelle Höhepunkt. Wenn der Leser das Ende des Romans kennt, hat er die ganze Geschichte, fast so wirklich, als habe er in seinen eigenen Erinnerungen gewühlt. Aber in der Realität hat er keine eigene Erkenntnis gewonnen, da er weder seine Einsicht in das Wesen des Menschen vertieft hat, indem er die Romanfigur erfasste, noch hat er über sich selbst etwas gelernt.
Die Erziehung des Lesens
Auch für philosophische oder historische Werke postuliert Erich Fromm die gleiche Unterscheidung. Die Art oder Unart, wie man ein philosophisches oder historisches Buch liest, ist das Ergebnis der Erziehung des Lesers. Die Schulen bemühen sich, jedem Schüler eine bestimmte Dosis an Kulturbesitz zu vermitteln. Am Ende seiner Schulzeit wird ihm dann bescheinigt, dass er zumindest ein Minimum davon erhalten hat.
Es wird ihm beigebracht, ein Buch so zu lesen, dass er die wichtigsten Gedanken des Verfassers wiedergeben kann. Auf diese Weise lernt er Platon, Aristoteles, René Descartes, Baruch Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant bis hin zu Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre kennen. Als hervorragend gilt jener Schüler, der am besten wiederholen kann, was jeder einzelne Philosoph gesagt und geschrieben hat.
Das Lesen in der Weise des Seins
Erich Fromm bedauert, dass die Schüler nicht lernen, was über diesen Besitz des Wissens hinausgeht. Sie lernen nicht die Philosophen in Frage zu stellen, mit ihnen zu reden, zu erkennen, dass sich manche selbst widersprechen, dass sie bestimmte Themen ausklammern und manche Probleme meiden. Die Schüler lernen nicht zu unterscheiden zwischen Meinungen, die sich dem Verfasser aufdrängen, weil sie zu seiner Lebenszeit als vernünftig galten.
Sie spüren nicht, wenn ein Philosoph nur seinen Verstand sprechen lässt und wann Herz und Kopf beteiligt sind, sie merken nicht, ob der Autor authentisch oder ein Schaumschläger ist. Der Leser in der Weise des Seins kann dagegen zu der Überzeugung gelangen, dass selbst ein von Kritikern hoch gelobtes Buch mehr oder weniger Schund ist. Vielleicht versteht er auch ein Buch manchmal besser als der Autor selbst, dem alles was er zu Papier brachte, wichtig erschien.
Von Hans Klumbies