Sadismus und Masochismus sind allgegenwärtig

Erinnerungen an intensive emotionale Situationen üben einen starken Sog auf alle Menschen aus – insbesondere Erinnerungen an Schmerzen oder Gewalt. David Gelernter erklärt: „Dass solche Erinnerungen uns anziehen, liegt an unserer morbiden Faszination, unserem angeborenen Sadismus oder Masochismus.“ Ein Sadist ist man insofern, als man sich von den Schmerzen anderer Menschen angezogen fühlt, und ein Masochist ist man, weil einen Erinnerungen auch dann anziehen, wenn man sie unangenehm, schmerzlich oder abstoßend findet. Sadismus und Masochismus sind allgegenwärtig und so menschlich wie das Atmen. Vor allem aber ziehen Menschen diese Erinnerungen wegen ihrer schieren Intensität an. Das Hellste, Lauteste, Größte, Stärkste weckt immer die Aufmerksamkeit, ganz gleich, was es ist. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.

Menschen werden von der Lust angezogen

Menschen fühlen sich zu nahezu allem hingezogen, was sie starke Emotionen empfinden lässt; das gilt insbesondere in der sensationshungrigen Welt des 21. Jahrhunderts. David Gelernter erläutert: „Wir werden natürlich von Lust angezogen und erschaffen Tagträume und Phantasien, um Lust zu empfinden. Seltsamerweise locken uns aber auch unangenehme Gefühle an. Wenn wir mit gewalttätigen oder entsetzlichen Szenen konfrontiert werden, wollen wir nicht hinsehen. Aber wir müssen. Und anschließend ziehen wir uns voller Schrecken zurück.“

Das sogenannte „Wartezimmer“ ist für David Gelernter eine zentrale Funktion des Geistes. Tatsachen werden Menschen nicht blind untergeschoben; Erinnerungen und Gedanken gelangen aus dem Gedächtnis in ein „Wartezimmer“, das sich knapp außerhalb des Bewusstseins befindet. Der bewusste Geist weiß, was im Wartezimmer ist. Man spürt es und es steht einem frei, diese Kandidaten eines Gedankens einzulassen oder zurückzuweisen. Wenn sie schmerzlich oder ärgerlich oder einfach nur unbequem sind, werden sie aus dem Wartezimmer verwiesen und kehren ins Gedächtnis zurück.

Erinnerungen an persönliches Leiden sorgen für heftige innere Konflikte

David Gelernter erklärt: „Das Gedächtnis schlägt vor; der bewusste Geist entscheidet. Letztendlich können wir aber einer wichtigen Erinnerung, die mit einer größeren emotionalen Bürde versehen ist, nicht für alle Zeiten entgehen.“ Wenn man die Aufnahme verweigert, schleicht sie sich in die Träume oder Tagträume ein. Wenn man sich sogar weigert, von ihr zu träumen, taucht sie wahrscheinlich als neurotisches Symptom wieder auf. Natürlich fühlt man Schmerzen und Leiden anders, wenn es die eigenen Schmerzen und Leiden sind.

Erinnerungen an persönliches Leiden sorgen für heftige innere Konflikte – soll man sich an sie erinnern oder nicht? Es gibt dreierlei Probleme: erstens schlechte Erinnerungen, zweitens gefährliche Erinnerungen und drittens Erinnerungen, die auf der Stelle verbannt werden. Schlechte Erinnerungen können sich in das gewöhnliche, wache Bewusstsein einschleichen. Gefährliche Erinnerungen gelangen in der Regel nur dann ins Bewusstsein, wenn man träumt. Verbannte Erinnerungen verdrängt man und will sie vollständig loswerden. Quelle: „Gezeiten des Geistes“ von David Gelernter

Von Hans Klumbies