Die Frage „Was ist deutsch?“ stirbt niemals aus

Dieter Borchmeyer versucht in seinem Buch „Was ist deutsch?“ gerade diese Frage zu beantworten, die ihrerseits typisch deutsch ist, denn keine andere Nation hat über die Jahrhunderte so sehr um die eigene Identität gerungen. Der Autor zeigt, was das für das Selbstverständnis der Deutschen bedeutet hat und heute noch virulent ist: von den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs über den Nationalismus der Befreiungskriege bis zu den jüngsten Debatten über Integration. In einer Zeit, in der Deutschland sich erneut seiner selbst vergewissern muss, schärft das Buch „Was ist deutsch?“ den Blick nicht nur für das, was war, sondern auch für das, was noch vor den Deutschen liegt. Dieter Borchmeyer ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaften an der Universität Heidelberg.

Der Begriff des Deutschseins brachte immer wieder neue Identitäten hervor

Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage „Was ist deutsch?“ niemals ausstirbt – so formulierte es schon der geniale deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche, der zugleich ein scharfsinniger Kritiker eben jener Deutschen war. Welche Folgen das Ringen mit der eigenen Identität aber für ihre Geschichte und ihr Selbstverständnis hatte und noch immer hat, das erfährt der Leser in Dieter Borchmeyers umfassender Darstellung. Er schildert, wie sich der Begriff des Deutschseins im Laufe der Jahrhunderte wandelte und immer wieder neue Identitäten hervorbrachte.

Dieter Borchmeyer erzählt von einem Land zwischen Weltbürgertum und nationaler Überheblichkeit, das die janusköpfige „deutsche Treue“ zur Kardinaltugend erklärte; von dem vergessenen Kapitel der nationalkulturellen Begeisterung deutscher Juden vor dem Ersten Weltkrieg, der Karriere der Nationalhymne und der deutschesten aller Sehnsüchte: der nach dem Süden. Dieter Borchmeyer erklärt, wie gerade die deutsche Provinz – etwa Weimar und Bayreuth – Weltkultur schaffen konnte und was es für Deutschland bedeutet, sich als Staats- oder Kulturnation zu verstehen.

Deutschland sollte wieder ein Kulturstaat sein

Der Autor zeichnet ein facettenreiches und eindrückliches Bild des deutschen Nationalcharakters. In einer Zeit der Umbrüche, in der Deutschland wieder einmal seine Rolle finden muss, ist das Buch „Was ist deutsch?“ in der deutschen Geschichte der Selbstsuche ein Spiegelbild und Wegweiser zugleich. Die Antworten auf die Frage „Was ist deutsch?“ pendelten, bisweilen mit extremen Ausschlägen, zwischen zwei Polen: einem welteinschließenden – kosmopolitischen – und einem weltausschließenden – nationalistischen – Pol.

Als bedeutende Macht in der Mitte Europas kann Deutschland sich nicht nur auf seine ökonomische Stärke verlassen, sondern muss ebenso auf die Anziehungskraft seiner Kultur setzen. Dieter Borchmeyer zieht am Schluss seines Buchs folgendes Fazit: „In der Mitte und im Herzen eines politisch und ökonomisch geeinten Europas sollten – damit dieses wirklich ein Herz hat – auch die Musen wieder ihren Gesang ertönen lassen dürfen, sollte Deutschland, das, lange bevor es Staat wurde, eine Kulturnation war, ein Kulturstaat sein.“

Was ist deutsch?
Die Suche einer Nation nach sich selbst
Dieter Borchmeyer
Verlag: Rowohlt Berlin
Gebundene Ausgabe: 1055 Seiten, 2. Auflage: 2017
ISBN: 978-3-87134-070-3, 39,95 Euro

Von Hans Klumbies

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