Der Mensch sollte immer offen für neue Perspektiven sein

Reifungsorientierte Persönlichkeitstheorien wie die die Theorie der Ich-Entwicklung von Jane Loevinger befassen sich mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Veränderungsprozessen im Erwachsenenalter. Jane Loevinger stellte fest, dass manche Menschen ihre eigenen Positionen im Laufe des Lebens immer mehr hinterfragen. Judith Glück erläutert: „Während man im jungen Erwachsenenalter seiner selbst und des eigenen Rechthabens oft sehr sicher ist, wird man später immer öfter mit Widersprüchen und Paradoxien konfrontiert und beginnt an der Allgemeingültigkeit der eigenen Sichtweisen zu zweifeln.“ Mit zunehmenden Alter erkennt man solche Widersprüche auch im eigenen Ich und lernt, sie immer besser zu akzeptieren und zu integrieren. Damit wird auch die wertende Haltung gegenüber anderen Menschen zunehmend aufgegeben. Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Ein außerordentlich gereifter Mensch ähnelt einem Weisen

Dennoch erreichen nur sehr wenige Menschen die letzte Stufe, die von großer Akzeptanz gegenüber der Unterschiedlichkeit von Menschen und der Bedeutung von historischen und kulturellen Prägungen gekennzeichnet ist. Die Beschreibung eines außerordentlich gereiften Menschen bei Jane Loevinger ähnelt sehr der eines weisen Menschen. Judith Glück ergänzt: „Um sich so weit entwickeln zu können, muss man die Konflikte und Widersprüchlichkeiten des Lebens und des eigenen Ich nicht als störend oder beängstigend, sondern als interessant und informativ ansehen.“

Man muss sich also eine große Offenheit für neue Perspektiven erhalten. Die Weisheitsforscherinnen Ursula Staudinger und Ute Kunzmann haben argumentiert, dass Menschen in ihrem Umgang mit den Herausforderungen des Erwachsenenalters und Alters grundsätzlich zwei Wege gehen können – entweder den der Anpassung mit dem Ziel, vor allem das eigene Wohlbefinden aufrechtzuerhalten, oder den des Wachstums mit dem Ziel, sich weiterzuentwickeln und das Leben als solches immer besser zu verstehen.

Weisheit entsteht durch Interesse am Lernen und nicht durch das Verlangen nach Sicherheit

Für den ersteren Weg ist allzu große Offenheit auch gar nicht hilfreich, denn es ist für viele Menschen angenehmer, ihre Sichtweisen und Überzeugungen aufrechtzuerhalten und gegen mögliche Widersprüche abzusichern, als sich immer wieder in Frage zu stellen. Für den Weg des Wachstums ist das aber unerlässlich. Weisheit lässt sich nur dann erlangen, wenn man mehr am Lernen interessiert ist als an der eigenen Sicherheit. Von daher ist es in gewisser Weise paradox, dass Offenheit als einer der fünf stabilsten Faktoren der Persönlichkeit gilt.

Denn Offenheit ist zugleich einer der Schlüssel dazu, insgesamt weniger eine stabile als eine sich immer wieder verändernde Persönlichkeit zu entwickeln. Weisen Menschen gelingt es, auch schlimme Lebenserfahrungen auf eine konstruktive, lebensbejahende Weise zu verarbeiten. Offenheit ermöglicht die konstruktive Verarbeitung von Erfahrungen durch eine vertiefte gedankliche, aber auch gefühlsmäßige Auseinandersetzung. Mehre Studien haben inzwischen gezeigt, dass weise Menschen offener als andere sind. Quelle: „Weisheit“ von Judith Glück

Von Hans Klumbies