Der Narzissmus beginnt beim Spiegelphänomen

Respektiert und ernst genommen zu werden: Dies ist es, was in einer gelingenden Entwicklung an die Stelle des kindlichen Narzissmus tritt. Allerdings erzeugt der mediale Darwinismus, in dem es primär um Aufmerksamkeit geht, eine brutale Grundsituation. Die Mängel an Aufmerksamkeit, gegenüber von Kleinkindern, zum Beispiel auf Spielplätzen, legen nahe, dass seine Majestät, das Baby, in Gefahr steht, genau das immer weniger zu sein. Georg Milzner stellt folgende Frage: „Denn was hilft es einem Kind, wenn es ständig als toll und besonders gelobt wird, ihm andererseits aber mit der Aufmerksamkeit die Grundressource des seelischen Wachstums genommen wird?“ Jene Aufmerksamkeit, die man seinen wichtigsten Bezugspersonen gibt, lässt sich als „erweiterte Selbstaufmerksamkeit“ begreifen. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

Die Kinder nehmen an der Mutterschaft teil

Denn die Aufmerksamkeit, die man ihnen schenkt, wirkt unmittelbar auf einen selbst zurück. Man kann die wichtigsten Bezugspersonen, insbesondere die eigenen Kinder, also in der Vorstellung vom eigenen Selbst mit verankern. Indem die Mutterschaft beziehungsweise Vaterschaft zum eigenen Selbst gehört, nehmen auch die Kinder an ihm teil. Die Vielfalt der Anforderungen an moderne Menschen bewirkt aber oft, dass nicht nur die eigene Person immer weniger wahrgenommen wird.

Auch die Aufmerksamkeit einem Kind gegenüber ist als erweiterte Selbstaufmerksamkeit immer stärker bedroht. Wo nun die erweiterte Selbstaufmerksamkeit ausbleibt, da wird die Folge sein, dass ein Kind sich als nicht wahrgenommen erlebt. Georg Milzner weiß: „Es wird die Furcht aufbauen, nicht wirklich von Interesse zu sein – und zugleich ein dringendes Bedürfnis, eben doch interessant zu sein.“ Und es wird Strategien entwickeln, dieses Fehlende zu kompensieren. Es kann beispielsweise ein narzisstisches künstliches Selbst herausbilden, dass mit seinem Drang nach Glanz und Glamour etwas auszugleichen versucht.

Der Narzisst neigt zur Selbstinszenierung

Etwas, was ihm fehlt oder wovon es zumindest fürchten muss, es nicht zu bekommen. In diesem Sinn lässt sich der Narzissmus als eine Spur begreifen, die einen Menschen, folgt man ihr, zu jener Angst führt, die heute allzu vielen unterschwellig eigen ist: der Angst, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Diese Angst, die Menschen in der gesunden Variante durch das Eingehen tiefer Beziehungen angehen, wird vom Narzissten durch Selbstinszenierung bekämpft.

Abschließend sagt Georg Milzner, dass das, was die Psychologie „Narzissmus“ nennt, überhaupt erst dort beginnt, wo ein Spiegelphänomen eintritt oder angestrebt wird. Im allerersten Spiegel, dem Blick der Eltern, erfahren Kinder, was sie dem großen, dem erwachsenen Gegenüber sind, welche Gefühle sie in ihm wecken und was sie ihm bedeuten. Freilich muss es bei diesem Blick nicht bleiben. Denn die Chance auf den nur einem selbst geltenden, den wesentlichen und zutiefst bestärkenden Blick hat man immer da, wo tiefe und intime Beziehungen entstehen. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner

Von Hans Klumbies