Wahr und falsch sind kaum mehr zu unterscheiden

In seinem neuen Buch „Undinge“ vertritt Byung-Chul Han die These, dass die rapide steigende Informationsflut die Menschen in eine postfaktische Gesellschaft stürzt. In vielen Fällen ist sogar die Unterscheidung zwischen wahr und falsch aufgehoben. Informationen zirkulieren nun ohne jeden Realitätsbezug in einem hyperrealen Raum. Byung-Chul Han stellt fest: „Die Welt wird zusehends unfassbarer, wolkiger und gespenstischer.“ Schon vor Jahrzehnten stellte der Medientheoretiker Vilém Flusser fest, dass Undinge von allen Seiten in die Umwelt der Menschen eindringen. Weil sie die Dinge verdrängen, nennt man sie Undinge. Byung-Chul Han entwickelt in „Undinge“ sowohl eine Philosophie des Smartphones als auch eine Kritik der künstlichen Intelligenz aus ungewohnter Perspektive. Byung-Chul Han ist ein koreanisch-deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Die Dinge stabilisieren das menschliche Leben

Gleichzeitig wendet sich Byung-Chul Han der Magie der Dinge zu und reflektiert über die Stille, die im Informationslärm zusehends verlorengeht. Die Ordnung der Erde besteht aus Dingen, die eine dauerhafte Form annehmen und eine stabile Umgebung für das Wohnen bilden. Sie sind jene „Weltdinge“ im Sinne von Hannah Arendt, denen die Aufgabe zukommt, menschliches Leben zu stabilisieren. Sie geben ihm einen Halt. Diese Ordnung wird heute allerdings durch die Digitalisierung abgelöst.

Erleben heißt für Byung-Chul Han, abstrakt formuliert, Informationen konsumieren: „Wir wollen heute mehr erleben als besitzen, mehr sein als haben. Das Erleben ist eine Form des Seins.“ Es gilt heutzutage nicht mehr die alte Maxime des Habens: Man ist umso mehr, je mehr man hat. Die neue Maxime des Erlebens lautet: Ich bin umso mehr, je mehr ich erlebe. Offenbar vermögen viele Menschen nicht mehr bei den Dingen zu verweilen oder sie zu ihren treuen Begleitern zu erheben. Denn Herzensdinge setzen eine intensive libidinöse Bindung voraus.

Die Stille kann zutiefst beglückend sein

Die Mobilität des Smartphones gibt den meisten Menschen ein Gefühl der Freiheit. Sein Läuten erschreckt niemand. Nichts am Mobiltelefon zwingt zur hilflosen Passivität. Niemand ist der Stimme des Anderen ausgeliefert. Das ständige Herumtippen und -wischen auf dem Smartphone stellt für Byung-Chul Han schon fast eine liturgische Geste dar. Diese wirkt sich massiv auf das persönliche Verhältnis zur Welt aus: „Ich habe die Welt ganz im Griff. Die Welt hat sich ganz nach mir zu richten. So verstärkt das Smartphone die Selbstbezogenheit.“

Das Heilige dagegen ist ein Ereignis der Stille. Es lässt die Menschen lauschen. Die Hyperkommunikation, der Lärm der Kommunikation entweiht und profanisiert heute jedoch die Welt. Byung-Chul Han stellt fest: „Niemand lauscht. Jeder produziert sich. Die Stille produziert nichts.“ Die Stille schärft die Aufmerksamkeit für eine höhere Ordnung, die aber keine Herrschafts- oder Machtordnung sein muss. Sie kann zudem höchst friedlich, ja freundlich und zutiefst beglückend sein.

Undinge
Umbrüche der Lebenswelt
Byung-Chul Han
Verlag: Ullstein
Gebundene Ausgabe: 125 Seiten, Auflage: 2021
ISBN: 978-3-550-20125-7, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies