Ein Aspekt der Zeit, die unter der Physik des 19. und 20. Jahrhunderts den Zerfall erlitt, hat gleichwohl überlebt. Carlo Rovelli erläutert: „Des uns so vertrauten Blendwerks entkleidet, mit dem sie die Newtonsche Theorie umhüllt hatte, strahlt jetzt umso klarer: Die Welt ist Wandel.“ Keines der Stücke, die der Zeit abhandengekommen sind, stellt durch seinen Verlust in Frage, dass die Welt ein Gefelcht von Geschehnissen ist. Zu den Verlorenen zählt Carlo Rovelli die Einheitlichkeit, die Richtung, die Unabhängigkeit, die Gegenwart und die Kontinuität. Das eine ist die Zeit mit ihren vielen Bestimmungen, das andere die schlichte Tatsache, dass die Dinge nicht „sind“: Sie geschehen. Dass die Größe „Zeit“ in den Grundgleichungen fehlt, bedeutet keineswegs, dass die Welt starr und reglos ist. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille.
Die Zeit ist das Maß der Veränderung
Im Gegenteil steht dies für eine Welt, in der Wandel allgegenwärtig ist, ohne dass dieser von Mutter Zeit geordnet wird. Die zahllosen Geschehnisse müssen sich nicht notwendigerweise in eine gute Ordnung fügen. Das müssen sich auch nicht auf Isaac Newtons Zeitachse oder in die eleganten Geometrien Albert Einsteins. Die Ereignisse der Welt stehen nicht geordnet Schlange wie die Engländer. Sie bilden ein chaotisches Gedränge wie die Italiener. Dennoch sind es Ereignisse, Veränderungen, Geschehnisse.
Auch wenn das Geschehen diffus, verstreut und ungeordnet verläuft, ist es Geschehen, nicht Stillstand. Uhren laufen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Sie bestimmen keine einheitliche Zeit, sondern verändern die jeweilige Position ihrer Zeiger relativ zueinander. Die Grundgleichungen beinhalten keine Variable Zeit, sondern andere, die sich relativ zueinander verändern. Die Zeit, so sah es Aristoteles, ist das Maß der Veränderung. Um diese zu messen, lassen sich verschiedene Variablen heranziehen, von denen keine sämtliche Merkmale der Zeit aus der menschlichen Erfahrung aufweist.
Unbeständigkeit ist allgegenwärtig
Dies ändert freilich nichts daran, dass die Welt unablässiger Wandel ist. Die gesamte Entwicklung der Naturwissenschaft deutet darauf hin. Die beste Sprache, in der sich die Welt denken lässt, ist die der Veränderung und nicht die der Dauer. Eine des Geschehens und nicht des Seins. Man kann sich die Welt als aus Dingen bestehend denken. Aus Substanz, aus Seiendem. Aus etwas, das ist. Das bleibt. Oder man stellt sich vor, dass sie aus Ereignissen besteht, aus Geschehen, Prozessen, aus etwas, das stattfindet.
Das anstatt beständig zu sein, steter Wandel ist. Das in der Zeit nicht stillsteht. Mit der Zerstörung des Zeitbegriffs in der Grundlagenphysik, ist die erste dieser beiden Sichtweisen, nicht aber die zweite zusammengebrochen. Diese beruht auf der Erkenntnis, dass Unbeständigkeit, nicht Stillstand in einer reglosen Zeit allgegenwärtig ist. Carlo Rovelli erklärt: „Wenn wir die Welt als eine Gesamtheit aus Ereignissen, aus Prozessen, denken, können wir sie besser erfassen, begreifen und beschreiben.“ Quelle: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli
Von Hans Klumbies