Klugheit wird in Form von Wissen weitergegeben

In der überwiegenden Mehrzahl der Gesellschaften ist Klugheit nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sondern ein Wert, den man pflegen muss. Allan Guggenbühl erklärt: „Gemeinschaften haben eine größere Überlebenschance, wenn kluges Denken und Handeln formalisiert und weitergegeben wird. Eine Gesellschaft würde bald zusammenbrechen, wenn jeder und jede sich nur auf persönliche Kompetenzen verlassen würde. Kluge Gedanken und Einsichten werden dann durch Institutionen gehütet und durch Rituale weitergegeben.“ Einsichten und Schlussfolgerungen der Mitmenschen und der Ahnen können Menschen helfen, aktuelle Probleme und Herausforderungen zu verstehen und zu bewältigen. Klugheit wird in Form von Wissen weitergegeben. Die älteren Generationen oder weise Menschen berichten von den Erkenntnissen, die bei der Bewältigung schwieriger Herausforderungen gezogen wurden. Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

Viele Menschen verzichten auf transzendente Botschaften

Dieses Wissen ergänzt die Weisheiten, die Familien weitergeben. Kulturen entwickeln Rituale, setzen Zeremonien und bauen Institutionen auf, damit die alten Weisheiten nicht vergessen werden. Die Vermittlung erfolgt auf verschiedene Art. Die älteste Form ist die mündliche Weitergabe. Die Vermittlung von Weisheiten über Göttergeschichten war nicht nur bei den Ureinwohnern Australiens, sondern auch in den Kulturen Afrikas und Asiens weit verbreitet. Ausgewählte Personen trugen die Weisheiten an speziellen Orten im Rahmen einer Zeremonie vor. Sie hielten die Geschichten damit lebendig.

Die mündliche Überlieferung und die Konservierung von Weisheiten durch Geschichten und Gedichte sind in unseren Breitengraden nicht mehr verbreitet. Einer der wenigen Orte, wo dies nich geschieht, ist die Kirche. Aber die meisten Menschen verstehen sich heute als rationale Wesen, die eigene Überlegungen anstellen und auf transzendente Botschaften verzichten. Das Lauschen und Erahnen tieferer Weisheiten tolerieren sie allenfalls an Weihnachten, wenn es sich dabei um die Geschichte der Geburt Jesus handelt. Die Faszination für die durch eine Geschichte vermittelte Botschaft überlassen die Menschen den Kindern.

Die Weisheit verwandelte sich zu profanem Wissen

Die Verbreitung der Schrift veränderte die Bedeutung mündlicher Erzählakte. Diese Entwicklung begann vor mehr als tausend Jahren. Im 8. Jahrhundert kam Papier über Mittelasien nach Europa und wurde ab dem 12. Jahrhundert allgemein gebräuchlich. Dank Papier konnte man Gedanken und Geschichten schriftlich fixieren. Dieser Schritt hatte eine große Auswirkung auf die Wahrnehmung der Inhalte. Dadurch, dass sie von Zeremonien losgelöst wurden, veränderte sich ihre Qualität. Sie verloren ihre Kraft der Suggestion und wurden fassbarer.

Es ging nicht mehr um das Erlauschen von Weisheiten aus einer anderen Welt aus dem Munde eines Schamanen oder Priesters, sondern um Textverständnis. Weisheit wurde der religiösen oder mythischen Sphäre entzogen und verwandelte sich zu profanem Wissen. Aus psychologischer Sicht spielt der Vermittlungsakt allerdings eine nicht unbedeutende Rolle. Allan Guggenbühl erläutert: „Man staunt nicht mehr gemeinsam über das Treiben der Götter, das Leben der Vorfahren oder hört eine eigenartige Erzählung, sondern beugt sich nun über einen Text und dechiffriert Buchstaben.“ Quelle: „Die vergessene Klugheit“ von Allan Guggenbühl

Von Hans Klumbies