Vergesslichkeit ist eine Überlebensstrategie

Svenja Flaßpöhler schreibt: „Es war wiederum Friedrich Nietzsche, der den Wert des Vergessens philosophisch auf den Begriff gebracht und die „Vergesslichkeit“ zur unerlässlichen Überlebensstrategie erklärt hat.“ So führt der Philosoph aus, die Vergesslichkeit sei „ein aktives, im strengen Sinne positives Hemmungsvermögen“. Dieses befreit das Denken eines Menschen, erhebt ihn über die Kämpfe, die er tief in seinem Inneren führen mag und öffnet so für ich die Zukunft. Friedrich Nietzsche erklärt: „Die Türen und Fester des Bewusstseins zeitweilig schließen; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsere Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegeneinander arbeitet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues.“ Dr. Svenja Flaßpöhler ist seit Dezember 2016 leitende Redakteurin im Ressort Literatur und Geisteswissenschaften beim Sender „Deutschlandradio Kultur“.

Verzeihen bedeutet Verzicht auf Vergeltung

Für Friedrich Nietzsche kann es kein Glück, keine Heiterkeit, keinen Stolz und keine Gegenwart ohne Vergesslichkeit geben. Wer nicht vergisst, kann nicht loslassen, nichts hinter sich lassen. Das Erinnern, diese später von Sigmund Freud geforderte psychoanalytische Selbsttechnik, ist für Friedrich Nietzsche gerade nicht die Bedingung für eine selbstbestimmtes Leben, sondern vielmehr Anzeichen chronischer Verstopfung. Um den Blick vornehm in die Zukunft zu richten, muss der Mensch ausblenden können, was an Unverdautem noch im Inneren gären mag.

Das Vergessen, so Friedrich Nietzsche, ist eine Form der Selbstkontrolle. Sie soll einen Menschen davon abhalten, selbstquälerisch zurückzuschauen und sich auf diese Weise vom freien Erleben der Gegenwart abzuhalten. Svenja Flaßpöhler hält es durchaus für möglich, dass Friedrich Nietzsche Recht hat. Vielleicht lässt sich das Vergangene ja nie endgültig verdauen. Sowohl das Vergessen als auch das Verzeihen sind ein positives Hemmungsvermögen. Schließlich bedeutet Verzeihen dem Wort nach „Verzicht auf Vergeltung“.

Resilienz ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben

Svenja Flaßpöhler fügt hinzu: „Das Verzeihen ist eine Unterlassung. Eine Technik der Zurückhaltung. Es meint das Nicht-Ausagieren eines Affektes. So wie der, der aktiv vergisst, sich des Impulses zu erinnern erwehrt, erwehrt sich der Verzeihende der Rachlust.“ Dieses Erwehren ist nicht nur einfach ein passiver Vorgang, sondern ein Können und ein Vermögen. Tun und Nicht-Tun sind in der Unterlassung ineinander verschränkt. Der Verzicht bedarf einer Anstrengung, einer Übung, bis er nachgerade in Fleisch und Blut übergeht.

Das Unterlassen der Rachlust nun, so schlussfolgert Svenja Flaßpöhler, ist aufs Engste mit dem Unterlassen des Erinnerns verwoben: „Auf Rache verzichten kann nur der, wer sich nicht ständig das zugefügte Leid ins Gedächtnis ruft. Es nicht unablässig heraufbeschwört und wiederkäut.“ Heutzutage steht in diesem Zusammenhang der Begriff der „Resilienz“ hoch im Kurs. Wer „resilient“ ist, vermag trotz tiefster Wunden – oder sogar gerade durch sie – ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er kann sich auf die Zukunft hin entwerfen, anstatt an der Vergangenheit zu kleben. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies