Johann Wolfgang von Goethe arbeitete über 50 Jahre am „Faust“

Als Krönung, nicht nur des Altersschaffens, sondern des Werks insgesamt, gilt die Faust-Dichtung, an der Johann Wolfgang von Goethe über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren als seinem „Hauptgeschäft“ gearbeitet hat. Noch vor 1775 schrieb der Schriftsteller einzelne Szenen nieder, die aber erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden und als „Urfaust“ bekannt geworden sind. Während seiner italienischen Reise (1786 – 88) arbeitete er erneut am „Faust“ und veröffentlichte 1790 „Faust, ein Fragment“. Um die Jahrhundertwende nahm er, inspiriert von Friedrich Schiller, die Arbeit am Faust-Thema wieder auf und veröffentlichte 1808 „Faust, der Tragödie erster Teil“. Dass für ihn das Thema keineswegs abgeschlossen war, macht nicht nur der Untertitel „erster Teil“ deutlich, sondern auch die Tatsache, dass Johann Wolfgang von Goethe sich damals bereits mit dem Helena-Akt beschäftigte.

Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ geht auf ein Volksbuch zurück

Aber erst 1824 nahm er die Arbeit wieder konzentriert auf, diesmal unterstützt von Johann Peter Eckermann, und konzipierte den zweiten Teil, den er 1831, kurz vor seinem Tod, abschließen konnte. Erschienen ist „Faust, der Tragödie zweiter Teil“ erst nach Johann Wolfang von Goethes Tod in den „Nachgelassen Werken“. Die Faust-Dichtung steht in einer langen historischen Tradition und ist ihrerseits wieder Auslöser einer neuen Traditionslinie geworden. Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ geht zurück auf das Volksbuch „Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler (1587).

Johann Wolfgang von Goethes Faust-Bearbeitung galt mit ihrem ersten und zweiten Teil schon bald als „klassische“ Deutung, an der sich nachfolgende Generationen abarbeiteten. Thema des „Faust“ ist das Streben des bürgerlichen Individuums nach Erkenntnis, persönlichem Glück und sinnvoller gesellschaftlicher Betätigung. Sein Entwicklungsgang durch die verschiedenen Lebenssphären – den kleinbürgerlichen Daseinsbereich von Gretchen, den dämonischen Hexensabbat und die klassische Walpurgisnacht, den mittelalterlichen Kaiserhof und die antike Welt – endet ähnlich dem „Wilhelm Meister“ bei der praktischen Tätigkeit zum Wohle der Allgemeinheit.

Faust hat auf seinem Weg durch die Welt viel Schuld auf sich geladen

Der Versuch des Teufels, Faust von seinem höheren Streben abzubringen und im „Gemeinen“ zu verwickeln, scheitert. Faust, der auf seinem Weg durch die Welt viel Schuld auf sich geladen hat, wird am Ende des Dramas ebenso gerettet wie seine Geliebte Gretchen im ersten Teil. Im göttlichen Weltplan sind das Versagen und der Irrtum des Individuums ebenso wie seine positiven Eigenschaften und Handlungen vorgesehen. Die Harmonie des Ganzen bleibt davon unberührt. Die bürgerliche Problematik der Individualität wird auf diese Weise objektiviert und in überzeitliche Dimensionen überführt.

Vor allem der zweite Teil in seiner kunstvollen Verschränkung der verschiedenen Symbolkreise und in der Verbindung zwischen Antike (Helena-Szene), Mittelalter (Kaiserhof) und Neuzeit (Kolonisationsprojekt) hohe Anforderungen an das damalige und heutige Publikum. Der erste Teil des „Faust“ wurde 1829, der zweite 1854 und beide zusammen 1876 uraufgeführt. Erst im 20. Jahrhundert gehörte auch „Faust II“ zum festen Repertoire der deutschen Bühnen. Im Jahr 2000 hat der Regisseur Peter Stein im Rahmen der Weltausstellung in Hannover erstmals die beiden Teile in einer Aufführung auf die Bühne gebracht. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies