Menschen können gewalttätig und grausam sein

Auf dem Weg, sich von seinen angeborenen Instinkten zu befreien, ist der Mensch schon lange, jedenfalls lange bevor er Grund hatte, dem Verdacht einer Geringschätzung der Natur ausgesetzt zu sein. Zunächst war seine allmählich wachsende Fähigkeit, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen, nicht günstig für die Pflanzen und Tiere, von denen der Mensch sich ernährte. Er pflanzte sie in Reih und Glied, züchtete sie nach seinen Erwartungen und ging mit den Tieren nach seinen Zwecken um. Volker Gerhard erläutert: „Er trennte die Jungtiere von den Müttern, um deren Milch für sich selbst zu nutzen, schor ihnen das Fell, und schlachte sie, nicht nur um ihr Fleisch zu essen, sondern auch, um sie den Göttern zu opfern.“ Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

Das Schamgefühl ist das einzig verbleibende Anzeichen von Humanität

Die Mitleidlosigkeit, die der Mensch heute im Handeln seiner Vorfahren zu entdecken meinst, wird durch den Umgang des Menschen mit seinesgleichen bestätigt: Jeder weiß, wie bedenkenlos, gewalttätig, grausam und hintertrieben der Mensch sich nicht nur gegenüber anderen Lebewesen, sondern auch gegenüber seinen Mitmenschen verhalten kann. Deshalb versteht Volker Gerhard ja auch so gut, dass viele, die wollen, dass die Welt sich ändert, nicht länger den Standpunkt des Menschen einnehmen möchten.

Man versteht die „Weltverbesserer“ noch besser, wenn man bedenkt, dass die schlimmsten Verbrechen des Menschen im verächtlichen Umgang mit seinesgleichen begangen werden. Das Ausmaß dieser Verbrechen wäre verharmlost, wenn man sie „bestialisch“ nennte. Ihre Permanenz und Perfidie sowie die in sie investierte Intelligenz beweisen über die Jahrtausende hinweg, dass hier Menschen am Werk sind. Die Bosheiten sind so eng mit den spezifisch menschlichen Fähigkeiten verbunden, dass man die Scham, ein Mensch zu sein, ohne weitere Erklärung als das einzig verbleibende Anzeichen von Humanität ansehen könnte.

Das Harmlose ist der Vorbote des Schrecklichen

Es gibt für Volker Gerhardt als hinreichende Gründe, das Wissen von der menschlichen Schuld in einer Abhandlung über die Humanität gegenwärtig zu halten. Hinzu kommt, dass man ohne dieses Wissen nicht verstände, warum das Ideal der Humanität unverzichtbar ist. Denn nur angesichts der gegebenen Bedingungen kann deutlich werden, warum man ohne eine ideale Vorstellung von sich selbst nicht menschlich leben kann. Das heißt: Die Ambivalenz in der Bewertung des menschlichen Handelns gehört zu den Bedingungen des Begriffs der Humanität und damit auch zu denen ihrer Theorie.

Folglich darf man die Realgeschichte der Menschheit weder vergessen noch verdrängen. Und man muss gewärtig sein, dass bereits das Harmlose der Vorbote des Schrecklichen ist. Nicht nur das Gutgemeinte, sondern auch das unverzichtbar Gute kann den Anfang vom Ende bedeuten. Friedrich Nietzsche war davon überzeugt, dass es so und nicht anders ist. Für ihn hat die „tragische Existenz“ des Menschen ihren Grund im menschlichen Glauben an die Wahrheit, die er mit der Leistung des Erkennens verband. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt

Von Hans Klumbies