Seit Immanuel Kant wusste das europäische Denken um die eigentliche Würde des Menschen Klares auszusagen. Der Philosoph aus Königsberg selbst hatte in der zweiten Formulierung seines kategorischen Imperativs gesagt, dass jedes Ding seinen Wert habe, der Mensch aber seine Würde – der Mensch dürfe niemals ein Mittel zum Zweck werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Menschen pessimistisch geworden. Viktor Frankl meint: „Wir glauben nicht mehr an einen Fortschritt schlechthin, an eine Höherentwicklung der Menschheit, als an etwas, was sich selbstständig durchsetzen würde.“ Der blinde Glaube an den automatischen Fortschritt ist eine Angelegenheit des „satten Spießbürgers“ geworden. Viktor E. Frankl war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und 25 Jahre lang Vorstand der Wiener Neurologischen Poliklinik. Er begründete die Logotherapie, die auch Existenzanalyse genannt wird.
Das Sein ist immer entscheidender als das Wort
Für Viktor Frankl gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Auffassungsweise vergangener Zeiten und derjenigen der Gegenwart: Früher einmal war Aktivismus mit Optimismus gekoppelt, während heutzutage der Aktivismus einen Pessimismus zur Voraussetzung hat. Denn heute kommt jeder Antrieb zur Tat aus dem Wissen darum, dass da kein Fortschritt ist, auf den man sich vertrauensselig verlassen könnte. Wobei sich Viktor Frankl dessen bewusst war, dass es überhaupt nur ein inneres Fortschreiten jedes Einzelnen gibt, der allgemeine Fortschritt dagegen höchstens in einem technischen besteht.
Der technische Fortschritt imponiert den meisten Menschen allerdings nur deshalb, weil sie in einem technischen Zeitalter leben. Doch Viktor Frankl gibt die Hoffnung nicht auf: „Doch wohl haben uns die vergangenen Jahre ernüchtert; aber sie haben uns auch gezeigt, dass das Menschliche gilt, sie haben uns gelehrt, dass alles auf den Menschen ankommt.“ Dabei ist das Sein immer entscheidender als das Wort. Und Viktor Frankl musste und muss sich immer wieder fragen, ob es nicht weit wichtiger ist, als Bücher zu schreiben und Vorträge zu halten: den Inhalt zu verwirklichen in je seinem eigenen Sein.
Jeder muss den Sinn des Lebens in seinem eigenen Sein verwirklichen
Viktor Frankl gibt zu, dass die vorbildlichen Menschen, die durch ihr Sein wirken können und sollen, in der Minderheit sind. Dennoch liegt alles am einzelnen Menschen, ungeachtet der allenfalls geringen Menge Gleichgesinnter, und alles liegt daran, dass er schöpferisch, in der Tat – und nicht mit bloßen Worten – den Sinn des Lebens in je seinem eigenen Sein verwirklicht. Es kann also nur darum gehen, einen positiven Lebensentwurf zu entwickeln, der jeweils erstens individuell und zweitens aktiv zu sein hat.
Wenn vom Sinn des Daseins gesprochen wird, dann ist er jeweils vorerst irgendwie in Frage gestellt worden. Wenn nach ihm ausdrücklich gefragt wird, wurde an ihm irgendwie schon gezweifelt. Der Zweifel an der Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins jedoch führt leicht zur Verzweiflung, die im Extremfall im Selbstmord endet. Für Viktor Frankl ist das Leben irgendwie Pflicht, eine einzige große Verpflichtung. Und: wohl gibt es im Leben auch Freude – aber sie kann nicht angestrebt werden, nicht als Freude gewollt werden, sie muss sich vielmehr von selber einstellen – und sie stellt sich auch von selber ein. Quelle: „Über den Sinn des Lebens“ von Viktor E. Frankl
Von Hans Klumbies