Es gibt nicht die eine Wahrheit

In den letzten zwei Jahren der Coronakrise sind viel Unwörter wie etwa Inzidenz, R-Wert oder 2G in den Lebensalltag gelangt. Sie prägen und regulieren seither das Zeitgeschehen. Ulrike Guérot erklärt: „Seit Neuestem bestimmen zwei Maximen das demokratische Miteinander, die in Demokratien eher unüblich sind: von der Wahrheit und der Pflicht.“ Der demokratische Staat geht – im Gegensatz zu totalitären Regimen oder Gottesstaaten – nicht davon aus, dass es eine Wahrheit gibt.“ Im Gegenteil: Er garantiert Glaubensfreiheit und verhandelt unterschiedliche Meinungen zu einem Thema in einem Diskurs. Die Pflicht ist in einer Demokratie in erster Linie die Einhaltung des Rechts. Das geltende Recht, vor allem die Grundrechte der Bürger, wurden wegen Corona für lange Zeiträume stark eingeschränkt. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn.

Die Demokratie in Deutschland ist ramponiert

Dazu zählen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht, das Recht auf einen Abendspaziergang oder ein würdiges Begräbnis, gar die Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung. Ulrike Guérot kritisiert: „Aus Recht wurde vielfach Moral und aus politischer Verhältnismäßigkeit Übergriffigkeit.“ Staatsbürgerliches Engagement misst man inzwischen an der Impfbereitschaft. Und weil sich einige „uneinsichtige“ Bürger nicht überzeugen lassen wollen, will man die Impfpflicht einführen.

Ulrike Guérot ruft in Erinnerung, wie sehr sich die Eckpfeiler der Gesellschaft verschoben haben und wie sehr die Demokratie in Deutschland ramponiert ist. Spätestens seit September 2021 aber liegt eine gesellschaftliche Nervosität in der Luft, eine Unruhe, die sich seither zuspitzt. Die Zustimmung zur Impfpflicht wackelt, dennoch will man sie aber im Frühjahr um jeden Preis durchsetzen. Immer mehr Bürger scheinen der Maßnahmen überdrüssig, egal wie penetrant die täglich verlesenen Höchststände der Omikron-Infektionen sind.

Die Gesellschaft ist in Sachen Corona tief gespalten

Im Nebel obskurer oder gar falscher Zahlen, Prognosen und Panikmache hat sich ein politisches System zum Jahresende 2021 völlig verrannt. Jeder, der wollte, konnte das sehen. Politisch aber musste man die Pandemie um jeden Preis weiterführen. Denn man konnte oder durfte nicht zugeben, dass sich Experten und Politiker in den letzten Monaten grandios geirrt hatten. In einem Moment, in dem viele Bürger schon vor Wut kochten, erhob man konsequentes Weitermachen zur Parole.

Die offensichtliche Tatsache, dass die Gesellschaft in Sachen Corona zutiefst gespalten ist, negierte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Amtsantritt. Der Fokus der Medien und Kanzler auf den radikalisierten Rang wiederum hat System. Unbescholtene, demonstrierende drückt man buchstäblich an den Rand. Ulrike Guérot weiß: „Wendet man Gewalt an, ist der Protest diskreditiert, wird kriminalisiert und am Ende eliminiert. Und zwar mit übertriebener staatlicher Gewalt, die dann legitim ist, weil der Staat gegen die Gewalttätigen vorgehen muss.“ Quelle: „Wer schweigt, stimmt zu“ von Ulrike Guérot

Von Hans Klumbies