Ulrich Herbert beleuchtet die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

In der europäischen Außenpolitik hatte sich seit der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Paradigmenwechsel ergebe. Durch den Bau der Flotte und der Propagierung der deutschen Weltpolitik hatte sich das Deutsche Reich in einen Gegensatz zu der einzigen tatsächlichen Weltmacht der Zeit, Großbritannien, gesetzt, ohne ein starkes Bündnis aus seiner Seite zu haben. Ulrich Herbert ergänzt: „Dieser Gegensatz dominierte in den folgenden Jahren die Entwicklung in Europa.“ In Reaktion auf die Herausforderung Deutschlands legte Großbritannien seine Konflikte mit Russland und Frankreich bei und baute die Verbindungen zu beiden Mächten in weniger als fünf Jahren zu einem so festen, wenngleich informellen Bündnis aus, dass Deutschland dadurch in jene Isolation geriet, die es zuvor selbst mit in Gang gebracht hatte und nun als Einkreisung wahrnahm. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Die Krise zwischen Deutschland und England spitzte sich zu

Auch bei dem durch die deutsche Flottenpolitik angeheizten Rüstungswettlauf zeigten sich Großbritannien entgegen den Erwartungen in Berlin ohne weiteres in der Lage, den Vorsprung gegenüber Deutschland zu erhalten. Ulrich Herbert fügt hinzu: „Im Zuge der außenpolitischen Zuspitzungen aber entwickelten der antideutsche Nationalismus in England und der antienglische Nationalismus in Deutschland eine zunehmende Schärfe, die es immer schwerer machte, gegen solche aufgeputschten Emotionen eine auf Ausgleich bedachte Außenpolitik durchzusetzen.“

Gleichwohl verlief von hier aus keine direkte Entwicklungslinie bis zum Kriegsausbruch im Sommer 1914. Vielmehr schien sich das Krisenmanagement der Mächte, das ja in Europa eine schon vierzig Jahre währende Friedensperiode ermöglicht hatte, weiterhin zu bewähren, und jeder entschärfte Regionalkonflikt wurde als weiterer Beleg für das Funktionieren dieses außenpolitischen Systems wahrgenommen. Auf der deutschen Seite war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine eindeutige Linie der Außenpolitik ebenso wenig auszumachen wie klar definierte Interessen.

Deutschland schien nach dem Status einer Weltmacht zu streben

Nicht so sehr eine Großmacht zu sein, sondern wie eine solche aufzutreten, schien im Mittelpunkt der deutschen Außenpolitik zu stehen. Ulrich Herbert erklärt: „Die Politik des Auftrumpfens und der Drohgebärden verstärkte aber bei den anderen europäischen Mächten den Eindruck eines deutschen Strebens nach Weltmacht und Hegemonie.“ Zum Bruch kam es aber nicht in Deutschland, sondern in Österreich-Ungarn, das 1908 die Provinz Bosnien und Herzegowina besetzte. Auf dem Balkan schwelte wegen der dort lebenden slawischen Minderheiten schon seit längerem ein Konflikt zwischen dem Zarenreich und der Donaumonarchie.

Diese Spannungen aktualisierten sich, seit Russland, das im Herbst 1905 eine schwere militärische Niederlage gegen Japan erlitten hatte, sein Expansionsbestreben wieder stärker nach Westen, vor allem auf den Balkan richtete. Der Vorstoß der k. und k. Monarchie nach Bosnien und Herzegowina beschwor daher einen Krieg mit Serbien und Russland herauf, der am Ende nur dadurch abgewendet werden konnte, dass Deutschland massiv für seinen Bündnispartner Österreich-Ungarn eintrat, indem es Russland auf diplomatischem Wege erheblich unter Druck setzte und dadurch Serbien zum Rückzug zwang. Quelle: „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ von Ulrich Herbert

Von Hans Klumbies