Aus der Einsicht heraus, dass alles Erkennen immer nur hypothetisch und vorläufig bleiben muss, hat insbesondere der Kritische Rationalismus zwei Regeln formuliert, die fast zu wissenschaftlichen Gemeinplätzen geworden sind. Wilhelm Berger erläutert: „Ihre Anwendung verspricht eine klare Grenzziehung zwischen der wissenschaftlichen Tätigkeit und ihren Konkurrenten bei der Deutung der Welt. Bis zu einem gewissen Grad können diese Regeln auch dazu dienen, alltägliche Diskussionen zu ordnen.“ Die erste Regel lautet, dass wissenschaftliche Sätze falsifizierbar sein sollen. Diese Regel reflektiert nicht nur das Faktum, dass vieles, was einmal als wahr gegolten hat, heute als falsch gelten muss. Die Regel ist darüber hinaus eine formale: Wissenschaftliche Sätze sollen eine Form haben, die es erlaubt, dass sie verneint werden können. Professor Wilhelm Berger lehrt am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Wissenschaftliche Sätze sollen eindeutig sein
Das betrifft wiederum zwei, in ihrer Härte abgestufte Aspekte. Zum einen soll die Möglichkeit der Widerlegung dadurch gegeben sein, dass der Satz etwas behauptet, das der wissenschaftlichen Tätigkeit prinzipiell zugänglich ist. Zum zweiten soll der Satz die prinzipielle Form der Eindeutigkeit haben. Damit ist aber die Tendenz verbunden, falsifizierbare Sätze auf die Form der Aussagesätze zu beschränken und die Vielfalt sprachlicher Funktionen aus dem auszublenden, was wissenschaftlich gelten darf.
Die zweite Regel ist diejenige der Konsistenz. Wilhelm Berger erläutert: „Wenn gezeigt werden kann, dass jemand einen Satz nicht aufrecht erhalten kann, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten, ist seine Argumentation inkonsistent. Wissenschaftlich ist ein Satz „wahr“, solange er sich in ein jeweils bestimmtes wissenschaftliches System einfügen lässt, ohne dort einen Widerspruch zu erzeugen.“ Dieses jeweils bestimmte System heißt bei Michel Foucault Disziplin. Die Regel der Konsistenz gibt aber auch allgemeiner die Mittel in die Hand, die innere Kohärenz von Weltanschauungen oder alltäglichen Meinungen zu prüfen.
Ein Paradigma kann an Widersprüchen zugrunde gehen
Ein Paradigma ist ein kohärentes System von wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen, wie zum Beispiel die aristotelische und die newtonsche Physik oder auch die psychoanalytische Theorie Sigmund Freuds. Wilhelm Berger fügt hinzu: „Ein Paradigma kann sich erschöpfen oder an inneren und äußeren Widersprüchen zugrunde gehen. Dann gibt es einen Bruch, die Trümmer werden weggeworfen oder in ganz anderer Weise geordnet und zusammengesetzt.“ Die konkreten Kriterien der Gültigkeit lassen sich laut Thomas S. Kuhn nur innerhalb eines gegebenen Paradigmas formulieren.
Das hat zur radikalen Konsequenz, dass es keine Möglichkeit gibt, die Aufeinanderfolge, den Wechsel der Paradigmen selber, wissenschaftlich als kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschritt zu interpretieren. Das Konzept von Thomas S. Kuhn bedeutet damit auch eine Absage an das Projekt einer wissenschaftlichen Idealsprache, das schon Gottfried Wilhelm Leibniz verfolgte, und an das umfassendere Projekt der Auflösung aller Widersprüche in einem universellen System der Kohärenz. Quelle: „Was ist Philosophieren?“ von Wilhelm Berger
Von Hans Klumbies