Die Demokratie lebt von der Mündigkeit

Die Mündigkeit der Bürger verwandelt sich in eine Fiktion, wenn nicht mehr um sie gekämpft und um sie gerungen wird. Ulf Poschardt erläutert: „Eine Demokratie, die aufhört, die Mündigmachung ihrer Bürger anzustreben, könnte irgendwann aufhören, Demokratie zu sein.“ Dabei geht es um kleinere Formate des Heroischen. Wunderbare Eltern, die ihre Kinder von klein auf politisieren und aufklären. Die Mündigmachung lebt von der Infizierung nach Mündigkeit Strebender durch Mündige. Demokratische Wahlentscheidungen sind im Ideal vernunftbasierte Entscheidungen über die bestmögliche Zukunft durch mündige Wahlberechtigte. Der Wahlkampf richtet sich im Ideal an diese mündigen Wahlberechtigten. Oder er emotionalisiert, verführt, romantisiert und spricht weniger den Verstand als eine irgendwie peripher rationalisierte Institution an. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

Die Spitzen der Politik sollen die Bürger aufklären

Auch innerhalb radikaler Emotionalisierungstendenzen gibt es unterschiedliche Grade von ästhetischer und semantischer Differenzierung, die zur Lektüre einen mündigen, diskursfähigen Wähler voraussetzen oder inspirieren. Doch die Tendenz geht deutlich in einen Bereich lebensweltlicher Anpassungsidyllen, in denen nichts mehr stören soll. Die beiden Nicht-Volksparteien FDP und Grüne haben einen Werbestil entwickelt, der die Inhalte wie die Garnitur eines Instagram-Accounts strahlen lässt.

Weniger der mündige Bürger als der Geschmacksbürger findet sich darin aufgehoben. Auch der Typus der Generalsekretäre verändert sich. Früher waren sie oft intellektuelle Schwergewichte ihrer Parteien, erfahren im Führen und Drehen anspruchsvoller Debatten. Inzwischen hat sich eine Art Aggressionstradition herausgebildet, in der vor allem die Nützlichkeit von Argumenten und Strategien zählt, weniger ihre aufklärerische Wertegebundenheit. Dabei wären insbesondere die Spitzen der Politik aufgerufen, Teil des mündigen Häufleins zu sein, den Theodor W. Adorno vermutete, wenn es um die Mannschaftsstärke der Mündigen in Deutschland ging.

Die Tyrannen müssen zurückgedrängt werden

Ulf Poschardt erklärt: „Mündigkeit ist ein Konzept der wenigen und dennoch im Zentrum der Demokratie, sie ist Widerstand gegen Kollektiv und Opportunismus.“ Sie ist im Kern auch Rebellion, weil sie den Einzelnen in seiner Erkenntnisplagerei zur Autonomie nötigt. Alle Mündigkeit unter diesem Ideal ist nur eine Partikularmündigkeit, wobei Theodor W. Adorno vom Typus eher zwanghaft keinerlei Regression zulassen wollte. Wer der Mündigkeit eine solch zentrale Bedeutung gibt, kann Momente zugelassener Unmündigkeit nur als Ausweis der Unidentischen der entfremdeten Menschen verstehen.

Wo soll bei Menschen, die ständig nur eine Rolle spielen, Mündigkeit sein? Eine gute Frage. Um es liberal zu beantworten. Vielleicht ist die Mündigkeit am Ende auch nur ein Versatzstück komplexer Ich-Konstruktionen. Aber hoffentlich im besten Falle ein prägendes Konzept. Freiheit, Verantwortung und Mündigkeit müssen sich gerade da beweisen, wo sie vordergründig kaum in Gefahr scheinen. Es geht – so Peter Sloterdijk – darum, zwei Tyrannen zurückzudrängen: „diejenige, die das Gesicht eines Despoten trägt, und die anonyme, die sich als jeweils herrschende Form des Notwendigen aufzwingen möchte“. Quelle: „Mündig“ von Ulf Poschardt

Von Hans Klumbies

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