Zweifellos hat es in den letzten Jahrzehnten ein besonderes Problem mit dem Islam und der Redefreiheit gegeben. Timothy Garton Ash verweist auf zahlreiche Beispiele, in denen andere Glaubenssysteme und durch ihre religiöse Identität definierte Gruppen an gewaltsamer Unterdrückung der Meinungsfreiheit beteiligt waren: „Buddhisten in Birma, Hindus in Indien, christliche Milizen in der Zentralafrikanischen Republik, kommunistische Atheisten in Nordkorea.“ In mehreren dieser Fälle gehörten Muslime zu den Opfern. Das Problem mit dem Islam zeichnet sich jedoch durch vier besondere Merkmale aus: die Größe; die Wirkung auf liberaldemokratische Gesellschaften, die besonderen Wert auf freie Meinungsäußerung legen; die Verbindung mit dem Terrorismus. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.
Der spanischen Inquisition fielen 350.000 Menschen zum Opfer
Das vierte Merkmal ist der Grad an Intoleranz, mit dem in einer Mehrheit der muslimischen Länder sowohl vom Staat als auch von der Gesellschaft den Anhängern anderer Religionen und Menschen ohne Religion begegnet wird. Die schlichte Tatsache der Größe darf nicht unterschätzt werden. Der Islam ist mit etwa 1,6 Milliarden Gläubigen die zweitgrößte Religion der Welt. Wenn ein ähnlich großer Teil der heute 2,2 Milliarden Christen und der Mehrheit der christlichen Staaten ähnlich intolerant wären, hätte die Menschheit ein noch viel größeres Problem.
Und tatsächlich hatte die christliche Welt Hunderte von Jahren genau dieses Problem. Laut Diarmaid MacCulloch, einem ausgezeichneten und sehr einfühlsamen Historiker des Christentums, gehörte „das westliche Christentum vor 1500 zu den intolerantesten Religionen der Weltgeschichte. Im Vergleich mit der mittelalterlichen islamischen Kultur ist seine Leistung in Sachen Toleranz armselig.“ Einer Schätzung zufolge fielen allein der spanischen Inquisition 350.000 Menschen zum Opfer. Außerdem sind die Tabus und Denkweisen, die heutige Europäer manchmal als „mittelalterlich“ bezeichnen, noch gar nicht lange aus der christlichen Welt verschwunden.
Pakistan zeichnet sich durch eine groteske Intoleranz aus
Selbst wenn alle Muslime in Europa und den benachbarten Staaten völlig gewaltlos geblieben wären, hätten liberale und atheistische Europäer immer noch ein Problem mit ihrer sozialkonservativen Religiosität gehabt. Ein extremes Beispiel für ein Land mit muslimischer Mehrheit, das sich durch groteske Intoleranz auszeichnet, ist Pakistan. Doch es ist nicht das einzige. Ähnlich wie in mehreren anderen mehrheitlich muslimischen Ländern konzentriert sich auch in Saudi-Arabien die extremste Unterdrückung auf Gläubige anderer Varianten des Islam oder auf vom Islam abgeleitete Glaubenssysteme von Minderheiten.
Die Christen sind in der gesamten Region, in dem ihr Glaube ihren Ursprung hat, eine bedrängte Minderheit. Einer Schätzung zufolge bestanden 1910 noch 14 Prozent der Bevölkerung des Nahen Ostens aus Christen, doch 2004 waren es nur noch vier Prozent. Der Arabische Frühling weckte die Hoffnung auf eine Öffnung in der Nähe des historischen Zentrums der historischen islamischen Kultur. Aber zwischen der intoleranten Ungeduld der Muslimbruderschaft und der gewaltsamen Unterdrückung des Militärs wurden diese Hoffnungen schon bald zermalmt. Quelle: „Redefreiheit“ von Timothy Garton Ash
Von Hans Klumbies