Menschen suchen schon immer nach der Wahrheit

Die Frage, was „Wahrheit“ ist, beschäftigt die Menschen seit Anbeginn. Sie ist eine notwendige Folge des Selbst-Bewusstseins und der Abgrenzung von den anderen. Thomas Fischer erläutert: „Man hat sich der Frage unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten genähert, die nicht allein Methoden von Wahrheitserkenntnis sind. Sondern sie prägen den Inhalt dessen, was als Wahrheit überhaupt erkennbar ist.“ Ob, beispielhaft, Übersinnliches auch Wahrheit sein kann, ist in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen ganz verschieden beurteilt worden. Die australischen Aborigines haben eine im Grundsatz andere Vorstellung von dem, was Wahrheit sein kann, als ein etwa in London oder Berlin sozialisierter Mensch. Dass es Wunder gibt, ist bekanntlich eine auch heute noch verbreitete Ansicht. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

In der Moderne dominiert die Wahrheit der Vernunft

Das Denken der Moderne ist radikal anders. Es eliminiert die nicht intersubjektiv überprüfbaren Wahrheiten aus dem Bereich der Wahrheit. Es weist sie Nebenbereichen des Wahnsinns, Aberglaubens und der Rückständigkeit zu. Diese können nicht zugleich mit der Wahrheit der Vernunft bestehen. Im Strafprozess des deutschen Rechts müssen Zeugen die Wahrheit sagen. Man ermahnt sie vor ihrer Vernehmung zur Wahrheit und informiert sie darüber, dass man sie bestraft, falls sie „falsch“ aussagen.

Die Beteuerungsformel, die ein Zeuge bei der Vereidigung sprechen muss, lautet: „Ich schwöre, dass ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe.“ Auch die Verpflichtung von Sachverständigen bezieht sich darauf, dass sie ihr Gutachten „nach bestem Wissen und Gewissen“ erstattet haben. Damit sind nicht allein Bewertungen und Schlussfolgerungen, sondern auch eine an der Erkenntnis der Wahrheit orientierte Erhebung der Grundlagen des Gutachtens gemeint.

Wahrheit ist ein vielschichtiger Begriff

Es geht also nicht um eine allgemeine, mittelmäßige, halbwegs wahre Wahrheit, sondern um die „reine“. Jedoch dürfen Beschuldigte in Deutschland lügen, dass sich die Balken biegen oder einfach gar nichts sagen. Thomas Fischer erklärt: „Sie sind nicht, wie in den USA, „Zeugen“ im Verfahren gegen sich selbst.“ „Die Ermittlung der materiellen Wahrheit“ ist ein nicht disponibles, höchstrangiges Ziel des Strafprozesses, „ohne dass Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden kann.“ So hat es das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung formuliert.

Gläubige Christen halten es für die „Wahrheit“, dass Gott existiert und Schuld vergibt. Gläubige Moslems erachten für wahr, dass eine endgültige Erlösung durch einen Gott bevorsteht. Naturwissenschaftler meinen, dass das Gravitationsgesetz wahr ist. Über Wahrheit diskutiert man auf allen denkbaren Ebenen. Schon eine willkürliche Auswahl von Behauptungen, die im Alltag mit dem Attribut „wahr“ versehen sind, zeigt, dass der Begriff vielschichtig in seinen Bedeutungen und schwierig in seinem Inhalt ist. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies