Die Moral ist ursprünglich weder friedlich noch angenehm

Moral ist, was bei der Normativität des Alltags herauskommt: ein mehr oder weniger buntes System von „Werten“, Anforderungen, Zumutungen und Beurteilungen. Thomas Fischer ergänzt: „Moral entspringt, soweit man das beurteilen kann, nicht einer „Seele“ des Menschen, sondern seinem wirklichen Leben.“ Sie spiegelt es wider und ändert sich mit ihm; ist daher auch weder zufällig noch inhaltlich vorbestimmt, wenn man von wenigen Grundstrukturen absieht, welche die gemeinsame Existenz betreffen und daher zumindest außerordentlich nah bei der „Natur“ angesiedelt sind: Fürsorge, Mitleid, Zuneigung, Rache. Aus der Sicht des Strafrechts sind das Bedürfnis und die Fähigkeit zum Motiv der Rache besonders wichtig. Moral ist keineswegs im Ursprung oder ihrer Natur nach konstruktiv, friedlich oder angenehm. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

Die Moral wirkt vielfältig auf die alltäglichen Lebensumstände ein

Die disqualifizierende Beschreibung einer Handlung als „unmoralisch“ ist eine alltagssprachliche Ungenauigkeit, die eigentlich meint, eine Handlung oder Einstellung zeuge von einer „schlechten“ Moral. Es gibt praktisch keine Verhaltensweisen, Einstellungen oder Handlungen, die in verschiedenen Epochen, Situationen, Kulturen stets und übereinstimmend als moralisch begrüßenswert oder umgekehrt als moralisch minderwertig angesehen wurden.

Moral besteht aus „Werten“, Sitten, Gebräuchen, Handlungsmaximen, praktischer Handhabung von Bewertungen. Als solche entsteht sie selbstverständlich aus den praktischen Lebensumständen selbst, wirkt aber auch vielfältig auf diese ein. Thomas Fischer erläutert: „Die moralischen Vorstellungen über die Anforderungen an Treue, Beständigkeit, Vertrauen, Tradition, Kritik unterscheiden sich beispielsweise in bäuerlichen Dorfgemeinschaften eklatant von denen in einem großstädtischen „Start-up“-Milieu.“

Es gibt viele Moralen

„Treue“ etwa ist in dem letztgenannten System keine Kategorie, nach der sich das Leben sinnvoll und erfolgreich gestalten lässt; „Untreue“ ist vielmehr ein geradezu positiv bewertetes Kennzeichen des gesellschaftlich als wichtig angesehenen Willens zur Selbstoptimierung und umfassenden Flexibilität einer Person. In einem traditionalen bäuerlichen System hingegen bewegt sich eine Orientierung von Personen am Ideal von Flexibilität am Rande des sozial Erträglichen und gilt als überaus kontraproduktiv, es kommt hier auf Beständigkeit, auf Treue „zum Land“, zum Althergebrachten und zu Personen an.

Beide Varianten „moralischer“ Systeme ergeben sich nicht aus medialer Beeinflussung, individueller Überredung oder reflektierter Überlegung, sondern aus den Notwendigkeiten der wirtschaftlichen Lebensgrundlage. Thomas Fischer stellt fest: „Es gibt also nicht eine Moral, sondern viele Moralen. In kleinen Gemeinschaften mit weitgehend einheitlicher Lebensgrundlage bildet sich stets eine „herrschende“, das heißt empirisch vorherrschende, sozial durchgesetzte, prägende Moral heraus.“ In einer Jäger- und Sammlerkultur wird das tendenziell eine Moral der Gleichheit und der gegenseitigen Unterstützungspflichten sein. Solche Gesellschaften haben kein Interesse an komplizierten „Strafen“ und Ausgrenzungen von Abweichlern, denn dadurch wird das gemeinsame Handeln behindert oder zerstört, das für das Überleben aller notwendig ist. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer

Von Hans Klumbies