Im Menschen die Menschheit zu lieben ist nicht leicht

Die Menschen, so heißt es bei Jean Paul, „soll keiner belachen als einer, der sie recht herzlich liebt.“ Die Wahrheit dieser ironischen Einsicht liegt darin, dass sie auch für die ernste Beschäftigung mit dem Menschen gilt: Zumindest in einer philosophischen Betrachtung kommt man nicht umhin, den Menschen, wenn nicht zu lieben, dann doch wenigstens zu schätzen – gerade auch dann, wenn man ihn verstehen, ihm raten und auch verzeihen will. Volker Gerhardt nennt den Grund: „Man erkennt und beurteilt keinen Menschen unabhängig davon, wie man sich selbst versteht. Also kann das, was über den Menschen im Allgemeinen zu sagen ist, nicht unabhängig von dem sein, was man im Besonderen von sich selbst als Mensch zu wissen glaubt.“ Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

Kein Mensch kann ohne den Beistand anderer leben

Und ohne Selbsteinschätzung kann man auch den Wert, den andere haben, nicht würdigen. Dass dies nicht ohne Anteilnahme möglich ist, wird niemand bestreiten wollen. Die muss man nicht als „herzliche Liebe“ bezeichnen. Aber man kann, auch ohne über Jean Pauls romantische Begabung zu verfügen, feststellen, dass ein Verständnis des Menschen, bei allem Befremden, das unvermeidlich ist, nicht ohne eine von Sympathie getragene Nähe möglich ist.

Dass dabei äußere Bindungen, die der Verstand zu beurteilen hat, eine Rolle spielen, versteht sich von selbst. Volker Gerhard erläutert: „Kein Mensch kann ohne den Beistand anderer Menschen leben; und die Gesamtheit aller Menschen kann nur bestehen, solange es Individuen gibt, die ihr Leben mit ihrer Erkenntnis, ihrem Verständnis und ihrer Einsicht so zu führen, dass sie von anderen Menschen verstanden werden.“ Und solange es um Verständnis und Erkenntnis geht, kommt es auf jeden Einzelnen an.

Nur der Mensch verdient den Titel eines „Ungeheuers“

Das ist aber nicht nur eine Frage des Erkennens. Die Notwendigkeit von Zuneigung, Zugehörigkeit und Vertrauen, damit auch der Wunsch nach emotionaler Nähe, lassen sich nicht leugnen. Doch auch Abneigung ist eine Realität. Sie kann mit der Furcht beginnen und in Hass und Verachtung münden, die uns verständlich machen, warum es auch Gleichgültigkeit geben und Toleranz als Errungenschaft begriffen werden kann. Volker Gerhard gesteht, dass es ihm persönlich alles andere als leichtfällt, Jean Pauls ironische Bemerkung ernsthaft und nachdrücklich auf die – vornehmlich ja Distanz erfordernde – theoretische Annäherung an den Menschen zu übertragen.

Kann denn der Mensch, der Kriege führt, der seinesgleichen bedrängt, belästigt, quält, vertreibt, unterdrückt und tötet, der als einziges Lebewesen auf der Erde in der Lage ist, absichtlich Böses zu tun, so dass Begriffe wie die des Lügners, des Treulosen, des Schänders, des Verräters oder des Verbrechers nur auf ihn anzuwenden sind, überhaupt ein Gegenstand sympathetischer Betrachtung sein? Die Frage verschärft sich, wenn man bedenkt, dass kein anderes Wesen auf der Welt den Titel eines „Ungeheuers“ so sehr verdient wie der Mensch. Quelle: „Humanität“ von Volker Gerhardt

Von Hans Klumbies