Wenn nicht das schlichte Dasein von Übeln als Begründung für das „Strafen“ ausreicht und wenn auch das Eintreten von Schäden im Zusammenhang mit Menschen ein ziemlich grobes und „ungerecht“ erscheinendes Raster ist, muss man, wie auch immer, am Zweck der Handlungen anknüpfen und diesen ihrem Urheber irgendwie „zurechnen“. Thomas Fischer beschreibt dies mit folgenden Worten: „ Man kann einer Person ihre Zwecke oder Motive nur dann zum Vorwurf machen, wenn es auch tatsächlich ihre sind oder man dies jedenfalls annimmt.“ Das ist eine Überlegung, die einen schon recht entwickelten, „modernen“ Begriff vom Strafen hat. Bis vor wenigen Hundert Jahren unterschied man in Europa noch nicht genau zwischen „Verbrechern“ und „Irren“, denn das setzt voraus, dass man die Person als selbstbestimmten Urheber von Zwecken ansieht. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.
Die Hirnforschung zweifelt an einem freien Selbst
In diesem Fall verändert sich das, was man als „Schuld“ bezeichnet, auf eine spezifische Weise. Hier kommt es zunächst nur darauf an, dass die Vorstellung von Verantwortung, wie sie dem modernen Strafen zugrunde liegt, voraussetzt, dass eine Person, ein Ich, ihrem Agieren eine selbstbestimmten Zweck gesetzt hat, also „frei“ war, sich für oder gegen das Handeln zu entscheiden. Das entspricht dem subjektiven Empfinden der meisten Menschen. Sie sind sicher, dass sie frei entscheiden können, ob sie beispielsweise sprechen, gehen, essen oder schlagen sollen.
Die Hirnforschung der vergangenen zwanzig Jahre hat gegen den subjektiven Eindruck der Entscheidungsfreiheit erhebliche und plausible Einwände formuliert. Dies hat zu großer Aufregung in vielen Bereichen des Wissens und der Theorie über die Natur des Menschen und der Gesellschaften geführt. Man müsse, so hieß es oft, alle Schlussfolgerungen, die sich aus der Annahme der Selbstbestimmtheit des Menschen ergeben, infrage stellen. Vieles, am Ende vermutlich sogar alles, was der Mensch denkt, bewertet und entscheidet, so scheint die Hirnforschung zu belegen, nicht aus seinem „freien“ Selbst, sondern aus biochemischen Abläufen, für welche die Regeln der naturwissenschaftlichen Kausalität gelten.
Entscheidungen entspringen nicht einem körperlosen Geist
Thomas Fischer erläutert: „Das ist natürlich nur eine sehr oberflächliche Umschreibung, die allerdings auch der grundsätzlichen Banalität der Erkenntnisse entspricht: Von der Entdeckung, dass die Entscheidungen nicht einem körperlosen „Geist“ entspringen, kann eigentlich nur überrascht oder gar schockiert sein, wer diese Annahme zur Grundlage seines Weltverständnisses gemacht hat.“ Dies geht nur, wenn man der menschliche Natur eine weitere, übernatürliche, rein geistige Sphäre hinzufügt, oder jedenfalls eine, die von menschlichen Sinnen nicht wahrgenommen werden kann.
Manche erschreckten Philosophen haben behauptet, die Hirnforscher hätten die Seele oder den Sinn, die Freiheit des Menschen oder Gott abgeschafft oder streben dies an. Auch Juristen und unter ihnen besonders die Strafjuristen sind über die Hirnforscher sehr erschrocken. Sie befürchten, dass ihnen die „Schuld“ verloren geht, die das wesentliche Kennzeichen der Vorwerfbarkeit sei, und der Boden, auf dem nach heutigem Verständnis „Strafe“ gedeihen kann. Quelle: „Über das Strafen“ von Thomas Fischer
Von Hans Klumbies