Rahel Jaeggi stellt ihre Kritik der Lebensformen vor

In der traditionellen Philosophie sind Fragen nach dem individuellen guten Leben kein Thema. Die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi beschäftigt sich dennoch mit ihnen. Denn für sie ist die Kritik an der eigenen Lebensführung überhaupt es die Voraussetzung aller individuellen Autonomie. Rahel Jaeggi ist Professorin für Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt Universität in Berlin. Beim Suhrkamp Verlag ist gerade ihre Habilitationsschrift „Kritik von Lebensformen“ erschienen. In ihrem Werk wendet sie sich gegen die dominierende Meinung des aktuellen politischen Liberalismus in der Philosophie. Die bezieht dabei eine konträre Position zu John Rawls und Jürgen Habermas. Diese vertreten die Auffassung, dass sich der Staat ethisch neutral gegenüber der Vielfalt von Lebensformen in der modernen Gesellschaft zu verhalten hat. Laut John Rawls ließen sich nur so Konflikte des staatlich zu regelenden Zusammenlebens lösen und den Ansprüchen moderner Individuen auf Selbstbestimmung gerecht werden.

Die klare Trennung von Ethik und Moral ist für Rahel Jaeggi eine Illusion

Jürgen Habermas erklärt in der Tradition eines Immanuel Kant, dass die persönlichen Fragen des guten Lebens grundsätzlich nicht rational zu beantworten sind und deshalb aus den politisch-rechtlichen Diskursen herausgehalten werden müssen. Bestimmbar ist für Jürgen Habermas nur das moralisch Richtige, die Gerechtigkeit. Dagegen unbestimmbar ist das ethisch Gute, Familienmodelle, Erziehungsstile oder Ernährungsfragen. Rahel Jaeggi dagegen hält eine klare Trennung von Moral und Ethik für eine Illusion.

Die Grenze zwischen Ethik und Moral ist für Rahel Jaeggi nicht nur fließend, sondern hat selbst einen ethischen Charakter. Die Schülerin des Frankfurter Philosophen Axel Honneth entwirft in ihrer Habilitationsschrift eine Theorie der Lebensform. Sie versteht darunter je ein Ensemble von sozialen Praktiken. Rahel Jaeggi erklärt: „Diese umfassen Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit normativen Charakter, die die kollektive Lebensführung betreffen, obwohl sie weder streng kodifiziert noch institutionell verbindlich verfasst sind.“

Krisen sind das Zeichen des Scheiterns von Lebensstilen

Rahel Jaeggi präsentiert in ihrem Buch auch Lebensformen als Strategien zu Lösung von Problemen. Bei diesem Ansatz, lässt sich ein Ziel ausmachen, das Menschen je nach Lebensweise, besser oder schlechter oder gar nicht erreichen. Krisen sind dann für Rahel Jaeggi Zeichen des Scheiterns von Lebensformen. Außerdem formulierte die Philosophin ein Verfahren der immanenten Kritik, das sich von der internen und externen Kritik unterscheidet. Bei der immanenten Kritik können zum Beispiel Kriterien der Beurteilung eines Lebensstils oft erst nach einer anspruchsvollen Analyse aufgedeckt werden.

Man muss laut Rahel Jaeggi verstehen, für welche Probleme eine Lebensform eine Lösung sein sollte und worin genau die Krise besteht, in die sie geraten ist. Dafür braucht man eine Theorie. Außerdem vertritt Rahel Jaeggi die These, dass sich die Philosophie in den politischen Diskurs einmischen muss. Darüber hinaus zeichnet immanente Kritik aus, dass sie nicht nur zu einer Rekonstruktion führt, also zur Wiederanpassung von realen Gestalten an bisher gültige Normen, sondern meistens zu einer Transformation. Quelle: Süddeutsche Zeitung

Von Hans Klumbies