Die verdrängten Wünsche kann nur ein Psychoanalytiker erschließen

Sigmund Freud geht von zwei entscheidenden Trieben des Menschen aus, dem Todestrieb, dessen Ziel sei, Leben zu zerstören, und dem Geschlechtstrieb, dessen Ziel sei, Leben zu erhalten. Wie Sigmund Freud sagt, sind Triebe niemals bewusst. Philipp Hübl erklärt: „Wie viele mentale Ausdrücke führt auch „Trieb“ ein Doppelleben. Die rein funktionale Lesart fasst Trieb also als einen Mechanismus auf, der etwas macht, also bestimmte Wirkungen hat.“ Spricht man von den menschlichen Trieben im Sinne von Wünschen, die intentional sind und sich im Bewusstsein äußern, so sind sie sowohl durch ihren Inhalt als auch durch ihre Form, ihren mentalen Modus, bestimmt. Wie die heutige Forschung teilt auch Sigmund Freud Wünsche und Emotionen in zwei Teile auf. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.

Die verdrängten Wünsche wirken nicht stärker als die sichtbaren

Erstens in den mentalen Inhalt, der bei Sigmund Freud „Vorstellung“ heißt, und zweitens in den mentalen Modus, der sich als eine phänomenal erlebte, körperlich gefühlte, kurz affektive Komponente äußert. Sigmund Freud zufolge liegt der Inhalt des Wunsches im Verborgenen, während man den affektiven Teil des Wunsches im Bewusstsein erlebt. Da das Ich keinen Zugang zu seinem Es hat und das Es sich nicht selbst äußern kann, liegt der einzige Grund, Wünschen im Es anzunehmen, beim Interpreten. Sigmund Freud meint, die Wünsche seien für den Patienten prinzipiell nicht zugänglich, sondern allenfalls vom Psychoanalytiker zu erschließen.

Sigmund Freud stellt sich Wünsche wie eine Bronzestatue vor, die man einschmelzen und zu einer neuen Figur formen kann. Philipp Hübl sieht das anders: „Doch bei Wünschen und anderen mentalen Zuständen sind Material und Form identisch, denn es gibt keinen rohen Wunsch-Stoff, der sich immer neu gestalten lässt.“ Auch die empirischen Annahmen Sigmund Freuds über die Macht der Wünsche haben sich nicht bestätigt. Sigmund Freud meinte, gerade die verdrängten Wünsche würden stärker wirken als die sichtbaren im Bewusstsein.

In Gott sah Sigmund Freud einen Vaterersatz

Doch die Forschung zeigt, dass unbewusste Prozesse lediglich ein farbloses Abbild der bewussten sind, bei denen man nur schwache Effekte messen kann. Manchmal ist nicht gesagt, dass gesellschaftlich inakzeptable Wünsche, die man hegt, keine Auswirkungen auf das eigene Leben haben. Manchmal schämt man sich für seine Gedanken, manchmal meidet man ganz automatisch die Themen, die einem zu schaffen machen, und manchmal ändert man sein Verhalten. Auch die Idee der Verschiebung und Sublimation, die Sigmund Freud vertritt, klingt für Philipp Hübl weit hergeholt.

Sigmund Freud hat sein Modell im späteren Leben auch auf Kulturphänomene wie Religion, Kunst oder das Unbehagen des Menschen in der Moderne ausgeweitet. Gott sah er als einen Vaterersatz und Kunst, oder intellektuelle Arbeit im Allgmeinen, als eine Verschiebung der Libido, also eine Umformung des Sexualtriebes in einen kreativen Trieb. Hier hat Philipp Hübl gegen das Projekt einer Reduktion nichts einzuwenden, auch wenn die Herleitungen weitgehend einer empirischen Grundlage entbehren. Quelle: „Der Untergrund des Denkens“ von Philipp Hübl

Von Hans Klumbies