Sigmund Freud war fest davon überzeugt, dass der Mensch die Verantwortung für sein Schicksal tragen muss, ohne dass er sie an andere Instanzen abtreten darf. Peter-André Alt erklärt: „Allein dort, wo die Annahme von der Existenz guter oder böser Übermächte durchbrochen wird, kann das gelingen.“ Dass der Einzelne nicht selten durch seinen Glauben wie seinen Aberglauben an der Selbstbestimmung gehindert wird, gehört zu Sigmund Freuds tiefsten Überzeugungen: „Ich halte mich für einen sehr moralischen Menschen, betrachte aber jede Form öffentlicher Zurschaustellung sittlicher Tugenden, wie sie in religiösen Bekenntnissen erfolgt, als peinlich.“ Die Trennung von Ethik und Religion gehörte zu den systematischen Prinzipien, die Sigmund Freud zeitlebens verteidigte. Peter-André Alt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin.
Die Religion sollte den sexuellen Impulsen der Menschen Einhalt gebieten
Sigmund Freuds Lehre, so schrieb Franz Kafka, finde „als Urgrund der Religionen auch nichts anderes als was ihrer Meinung nach die Krankheiten des Einzelnen begründet. Der Glauben entspringt demselben Boden wie die seelische Pathologie.“ Sigmund Freud wäre mit Franz Kafkas Zusammenfassung seiner Religionskritik vermutlich einverstanden gewesen. Die Überzeugung, dass die Psychoanalyse eine atheistische Wissenschaft sei, formulierte er seit der Jahrhundertwende immer wieder.
Sigmund Freud betonte im Jahr 1910: „Die außerordentliche Vermehrung der Neurosen seit der Entkräftung der Religionen ist ein Merkmal der Moderne und eine Herausforderung für die psychoanalytische Therapie.“ Gleichzeitig suchte seine Theorie immer wieder den Ersatzcharakter des Glaubens zu entlarven und seine sublimierende Rolle aufzudecken. Die Religion, so vermutete Sigmund Freud, besaß selbst den Zuschnitt einer Verdrängungsmacht, die den sexuellen Impulsen der Menschen Einhalt gebieten und sie auf heilige Ziele lenken sollte.
Die Religion tröstet die Menschen über den Triebverzicht hinweg
Innerhalb eines Systems der Zwänge, das die Gesellschaft etabliert hat, um ein Zusammenleben der Menschen ohne Gewalt und Aggression zu gewährleisten, bilden Kultur und Religion besondere Formen der Entlastung. Schöpfungen der Kultur stiften Ideale, schaffen einen erlaubten Genuss und lenken die libidinösen Energien auf allgemein anerkannte Werte oder Objekte. Sigmund Freud erläutert: „Die Befriedigung, die das Ideal den Kulturteilnehmern schenkt, ist also narzisstischer Natur, sie ruht auf dem Stolz auf die bereits geglückte Leistung.“
Noch konkreter ist die Wirkung der Religion, die zwei Funktionen gleichzeitig erfüllt: sie sichert die Menschen gegen einen Zustand der permanenten Barbarei und Selbstzerfleischung, indem sie strenge Regeln für das Zusammenleben aufstellt; und sie tröstet die Menschen über den Triebverzicht hinweg, indem sie die Hoffnung auf ein Fortdauern der geistigen Existenz nach dem Tod nährt. Der Glaube an die Ratschlüsse eines allmächtigen Schöpfers hilft dem Einzelnen, seine beschränkte irdische Daseinsform besser zu ertragen, weil er sie als Teil des Weltplans zu betrachten lernt. Quelle: „Sigmund Freud“ von Peter-André Alt
Von Hans Klumbies