Vier Dinge zeichnen eine vertraute Beziehung aus

Was zeichnet vertraute Beziehungen im Besonderen aus? Laut Martha Nussbaum sind dies vier Dinge: „Erstens nehmen diese Beziehungen einen außergewöhnlich zentralen Platz in unseren Vorstellungen von einem gelingenden Leben ein, oder, um den Ausdruck vor Aristoteles zu verwenden, in unseren Vorstellungen von der eudaimonia.“ Die andere Person und die Beziehung selbst sind ein geschätzter Teil des eigenen guten Lebens – wobei die Beziehung wiederum weit in das Leben der durch sie Verbundenen hineinwirkt, sodass aus viele Unternehmungen gemeinsame Unternehmungen und aus Ziele geteilte Ziele werden. Eine Entzweiung bedeutet folglich in vielerlei Hinsicht einen Bruch in der eigenen Existenz. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Ein vertrauensvolles Leben bringt große Verwundbarkeit mit sich

Zweitens bringen solche Beziehungen eine große Verwundbarkeit mit sich, weil sie mit Vertrauen zu tun haben. Was Vertrauen ist, lässt sich schwer definieren. Immerhin lässt sich mit Annette Baier bereits sagen, dass es sich vom bloßen Sich-Verlassen auf jemanden oder etwas unterscheidet. Vertrauen erfordert, dass man die Möglichkeit zulässt, betrogen zu werden und tiefe Wunden davonzutragen. Es bedeutet den Selbstschutz zu lockern, mit dem man für gewöhnlich durchs Leben geht, und die von einem weitgehend unkontrollierten Handlungen des anderen sehr wichtig zu nehmen.

Einem Menschen vertrauend glaubt man, dass er sich an seine Zusagen halten wird, und gleichzeitig betrachtet man jene Zusagen als äußerst wichtig für das persönliche Wohlbefinden. In der Regel hat man gegenüber jemanden, dem man vertraut, auch andere Empfindungen, wie etwas Liebe oder Sorge. In jedem Fall bringt ein vertrauensvolles Leben große Verwundbarkeit und eine gewisse Machtlosigkeit mit sich, die leicht in Zorn umschlagen kann. Es ist aber zweifellos möglich, ohne diese Form der Abhängigkeit zu leben, wie dies Stoiker tun.

Der Zusammenbruch einer Beziehung rührt an den Kern der eigenen Person

Ein drittes markantes Merkmal vertrauter Beziehungen verbindet sich mit Szenarien des Zusammenbruchs. Weil die mit dem Zusammenbruch einer solchen Beziehung einhergehende Verletzung innerlich ist und an den Kern der eigenen Person rührt, lässt sie sich nicht in vollem Umfang rechtlich behandeln, auch wenn das zweifellos versucht wird. Darum können diese Verletzungen einsam machen und isolieren; sie verbinden sich mit einer umfassenden Machtlosigkeit.

Ein viertes Merkmal könnte in eine konstruktivere Richtung deuten, auch wenn das allzu oft nicht der Fall ist: Vertraute Beziehungen geht man für gewöhnlich mit Leuten ein, die man mag. Den Ehepartner, den Liebhaber, ein Kind – diese Menschen heißt man willkommen, und in der Regel bleibt etwas Schönes oder Angenehmes von ihnen, das nicht völlig ausgelöscht wird von dem, was sie auch immer an Schlimmen getan haben. Das Zielobjekt des Zorns ist die Person, seinen Fokus aber bildet die Tat, und die Person gilt mehr als die Tat, wie schwer es auch fällt, sich dies in Erinnerung zu rufen. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum

Von Hans Klumbies