Markus Gabriel spürt dem Denken nach

Ohne zu denken kann sich ein Mensch nicht im Unendlichen orientieren. Die Art und Weise, wie man sich irgendeine Szene vorstellt, ist eine Ausübung der Einbildungskraft, die Teil des Denkens ist. Markus Gabriel fügt hinzu: „Sich etwas in der Einbildungskraft auszumalen ist eine Art und Weise, einen Gedanken zu erfassen, das heißt zu denken.“ Das Denken ist kein Privileg des Menschen. Andere Lebewesen orientieren sich auch. Sie verfügen ebenfalls über Begriffe, die sie im Denken als Wegmarken einsetzen.“ Ein Schwein denkt etwa, dass es Futter erhalten wird. Aber ein Mensch kann nicht einmal ahnen, was in einem Schweineleben alles vorfällt und welche Begriffe Schweine einsetzen. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Nicht nur der Mensch verfügt über eine Sprache

Für Markus Gabriel ist es wichtig, sich ausdrücklich von einem Vorurteil zu befreien, das aus der Philosophie des letzten Jahrhunderts stammt. Dieses Vorurteil trägt den Namen „linguistische Wende“. Sie ist die Umstellung von der Untersuchung des Wirklichen auf die Untersuchung der menschlichen sprachlichen Werkzeuge zur Untersuchung des Wirklichen. Diese Wendung geht meistens einher mit der Meinung, dass das Denken durch und durch sprachlich verfasst ist. Angeblich denkt man auch buchstäblich anders, wenn man eine andere Sprache spricht.

Insbesondere wurde damit in der Vergangenheit bisweilen auch der Anspruch verbunden, dass ohnehin nur Menschen denken können. Denn nur sie verfügen über eine Sprache, in der sie denken. Markus Gabriel hält das von vorne bis hinten für falsch. Auch andere Lebewesen verfügen über eine Sprache. Und es ist abwegig, davon auszugehen, das Denken sei ein Vorrecht des Menschen. Das leuchtet nur ein, wenn man bestimmte Formen des Denkens mit dem Denken selber identifiziert. Höhere Mathematik zum Beispiel gibt es – soweit wir wissen – nur bei Menschen.

Die Sprache steht am Beginn der Zivilisation

Sprache ist als Code für Gedanken im menschlichen Leben unerlässlich. In der Form von mündlicher Kommunikation und Schrift steht sie am Ursprung der menschlichen Zivilisation, das heißt der Organisation des menschlichen Zusammenlebens durch explizite Formulierungen von Spielregeln. Um den Fallstricken der linguistischen Wende zu entkommen, schlägt Markus Gabriel vor, zwischen Begriffen und Wörtern zu unterscheiden. Wörter definiert er als Spielmarken in einer natürlichen Sprache wie Deutsch, Hindi, Arabisch und so weiter.

Ein Begriff ist im Unterschied zu einem Wort aber keine Spielmarke in einer natürlichen Sprache. Der Begriff, den ein Deutscher von einem Gleis hat, ist exakt derselbe Begriff, den eine Italienerin von einem „binario“ hat. Die Wörter „Gleis“ und „binario“ bedeuten nämlich dasselbe. Ihre Bedeutung ist der Begriff des Gleises, der verschiedene Gleise gleichsetzt und von anderen Gegenständen in relevanten Sinnfeldern, die keine Gleise sind, unterscheidet. Richtig ist für Markus Gabriel daher: „Wir denken in verschiedenen Sprachen nicht anders, sondern anderes.“ Quelle: „Der Sinn des Denkens“ von Markus Gabriel

Von Hans Klumbies