Die modernen Identitäten sind von sozialer Natur

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hätte niemand, der nach der Identität eines Menschen fragte, die Kategorien race, Gender, Nationalität, Region oder Religion erwähnt. Früher war die Identität etwas ganz Besonderes und Persönliches. Kwame Anthony Appiah vergleicht dies mit der Gegenwart: „Die Identitäten, an die wir heute denken, haben wir dagegen meist mit Millionen oder Milliarden anderen Menschen gemeinsam. Sie sind von sozialer Natur.“ In den sozialwissenschaftlichen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts sucht man nach solchen Identitäten vergebens. In seinem 1934 veröffentlichten Buch „Mind, Self, and Society“ skizzierte George Herbert Mead eine einflussreiche Theorie des Selbst als Produkt eines „Ich“, das auf die sozialen Anforderungen der anderen reagiert und durch deren Verinnerlichung das „Mich“, wie er dies nannte, herausbildet. Professor Kwame Anthony Appiah lehrt Philosophie und Jura an der New York University.

Alvin B. Gouldner definiert die soziale Identität

Von Identität begann man in nennenswertem Umfang erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen, und zwar in der Sozialpsychologie, mit dem einflussreichen Werk des Psychologen Erik Erikson. In seinem ersten Buch „Kindheit und Gesellschaft“, das 1950 erschien, verwendet er den Ausdruck in mehr als einer Bedeutung. Vor allem aber erkannte er, wie wichtig soziale Rollen und die Zugehörigkeit zu Gruppen für die Ausbildung eines Selbstbewusstseins sind, das er in psychoanalytischer Manier als „Ich-Identität“ bezeichnete.

Während Erik Erikson, der zwischen persönlichen und kollektiven Formen der Identität schwankte, für eine weite Verbreitung des Begriffs sorgte, gehörte der einflussreiche amerikanische Soziologe Alvin B. Gouldner zu den ersten, die eine detaillierte Definition der sozialen Identität als solcher anboten. „Offenbar ist mit >Stellung< die soziale Identität gemeint, die einer Person von Mitgliedern ihrer Gruppe zugeschrieben wird“, schrieb er 1957 in einem Aufsatz. Und er stellte dar, was das im sozialen Leben praktisch bedeuten mochte.

Seit Ende der 1970er Jahre ist der Nationalismus auf dem Vormarsch

Zunächst, so glaubte Alvin B. Gouldner, beobachten die Menschen „an einer Person oder unterstellen ihr bestimmte Merkmale“, die es ihnen erlauben, „die Frage zu beantworten, wer sie ist“. Als Nächstes „werden diese beobachteten oder unterstellten Merkmale auf der Grundlage eines Satzes kulturell vorgegebener Kategorien interpretiert“. Auf diese Weise wird der Einzelne „eingeordnet“, das heißt, man hält ihn für eine bestimmte „Art“ von Person, einen Lehrer, einen Schwarzen, einen Jungen, einen Mann oder eine Frau.

Appelle an die Identität nahmen während der 1960er Jahre beträchtlich zu, und Ende der 1970er Jahre gab es in vielen Gesellschaften politische Bewegungen, die in Geschlechterfragen und sexueller Ausrichtung, race, Religion und ethnischer Zugehörigkeit gründeten. Vielerorts redeten regionale Bewegungen, die versuchten, teils seit langem bestehende Staaten aufzulösen, von nationaler Identität. Allein in Europa gibt es den schottischen, walisischen, katalanischen, baskischen, padanischen und flämischen Nationalismus. Ende des 20. Jahrhunderts zerbrach Jugoslawien in eine Reihe eigenständiger Staaten. Quelle: „Identitäten“ von Kwame Anthony Appiah

Von Hans Klumbies