Der Philosoph ist ein Abenteurer des Geistes

Indem die Weisheit den Einzelnen auffordert, sich selbst und die Welt kennenzulernen, sein Wissen und seine Vernunft zu entwickeln, innerlich frei zu werden und sich gemäß seiner Natur zu entfalten, ist die Weisheit zutiefst subversiv. Frédéric Lenoir erläutert: „Denn sie stellt sich den religiösen und politischen Mächten entgegen, die gemeinsam daran arbeiten, den Zusammenhalt und die Stabilität der sozialen Gruppe bisweilen sogar mit Gewalt aufrechtzuerhalten.“ Wenn der Einzelne beginnt, sich mit seinem Seelenheil oder persönlichen Glück zu beschäftigen, wenn er seine Vernunft und Fähigkeit zur Erkenntnis entwickelt, läuft er Gefahr, den kollektiven Normen nicht mehr zuzustimmen. Ein Blick zurück in die Vergangenheit zeigt, dass die Suche nach Weisheit einst das wichtigste Ziel der Philosophie war, als sie im ersten Jahrtausend v. Chr. in Griechenland entstand. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

Der Philosoph strebt nach Weisheit

Dieses Streben nach Weisheit, also nach einem glücklichen Leben erfolgte mithilfe der Vernunft, die der Suche nach Wahrheit dienen soll, wie auch Epikur sagt: „Die Philosophie ist eine Tätigkeit, die durch Argumentation und Diskussion das glückselig Leben verschafft.“ Der Philosoph strebt nach Weisheit, doch möchte er sich keinen Täuschungen hingeben, weshalb er seinen Verstand einsetzt, um das Wahre und Richtige vom Unwahren und Falschen zu unterscheiden.

Der Philosoph ist laut Frédéric Lenoir weder ein Intellektueller noch ein Lehrer oder Experte, sondern ein Abenteurer des Geistes, der ein gutes und glückliches Leben voller Erkenntnis zu führen versucht. André Comte-Sponville fasst das folgendermaßen zusammen: „Weisheit ist das Maximum an Glück in einem Maximum an Erkenntnis.“ Die Philosophie, so wie sie sich in der Antike entwickelt hat, dient nicht dazu, Spezialisten hervorzubringen, sondern die Menschen zu formen.

Die Philosophie soll den Menschen zu innerer Größe führen

Heute dagegen hält man Philosophen für Philosophiehistoriker oder Kenner der Ideengeschichte. Frédéric Lenoir ist da anderer Ansicht: „Zwar sind geistesgeschichtliche Kenntnisse sehr wertvoll, doch man kann auch philosophieren, ohne sie zu besitzen, solange man sich wundert, Dinge hinterfragt, argumentiert und versucht, sein Leben bestmöglich zu gestalten. Kinder können das.“ Die Philosophie der Antike hat sich über fast ein Jahrtausend rund um große, sehr unterschiedliche Strömungen entwickelt, die alle das Streben nach Weisheit zu ihrem Hauptziel gemacht hatten.

Frédéric Lenoir nennt als Beispiele in zeitlich aufsteigender Linie den Platonismus, den Aristotelismus, den Epikureismus, den Stoizismus, den Kynismus, den Skeptizismus sowie den Neuplatonismus. Obwohl diese philosophischen Schulen sich mit allen mögliche Disziplinen beschäftigen – mit Logik, Rhetorik, Mathematik, Physik, Kosmogonie –, bleibt der oberste Zweck ihrer Lehre doch das Glück und die Formung eines Menschen, der so viel wie möglich an innerer Größe hinzugewinnen soll. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir