Griechenlands Demokratie war keine Wohlfühloase

Die griechische Demokratie war alles andere als eine Wohlfühloase. Jürgen Wertheime weiß: „Sehr viel eher war sie ein permanentes psychisches und physisches Testlabor und eine Art mentales Trainingslager. Was auf dem Theater durchgespielt wurde, konnte im Alltag auch und gerade bekannter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den Tod bedeuten.“ Die großen Philosophen wie Sokrates, Platon, aber auch die Vorsokratiker wie Empedokles standen unter Generalverdacht. Und oft bedurfte es nur einer speziellen politischen Konstellation, um sie zu Fall zu bringen. Für Platon zum Beispiel waren die Herrschaftsmethoden der 30 Oligarchen ein tiefer Schock. Diese hatten 404 v. Chr. nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg die Macht an sich gerissen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

Sparta strebte eine militärisch Elite an

Das Staatsmodell, das Platon gegen die in seinen Augen verwahrlosende Demokratie entwickelt, ist nicht unproblematisch und nicht unumstritten. Er setzt auf Eliten, bis hin zu der Vorstellung, diese regelrecht zu züchten und so den Staat durch den Stand der „Philosophenherrscher“ immer mehr zu optimieren. Vorstellungen, wie sie übrigens auch Sparta hegte, wenngleich dort eher mit dem Ziel einer militärischen Elite. Es ist für Jürgen Wertheimer erstaunlich, wie früh sich das demokratische System mittlerweile allzu bekannter Vorwürfe erwehren musste.

Sie lauteten: Zu lax oder zu rigide zu sein, zu beliebig oder herrschsüchtig, wen auch verdeckt. Und es is gut, dass Athen diese Auseinandersetzung annahm und bis zu einem gewissen Grad auch aushielt. Vielleicht war es eines der Erfolgsgeheimnisse des werdenden Europas, von Beginn an auf Widersprüche und Diversität zu setzen. Dadurch grenzte es sich vom tendenziell totalitären Staat Spartas und vom potentiell totalitären Ideal Platons ab. Die Kopplung von Strenge und Anarchie, Phantasie und Logik, Imagination und Analyse jedenfalls gab Griechenland ein ganz eigenes Profil.

Das demokratische System war immer in Gefahr

Jürgen Wertheimer fügt hinzu: „Freilich mag auch der genuin europäische Hochmut, seine Hybris hierin seinen Ursprung haben. Man ahnte, man war auf dem Weg zu einem System, wie es die Welt in dieser Form noch nicht kannte. Einen Schritt weiter, und man gerät in Versuchung, die ganze Welt mit ihm zu beglücken.“ Das demokratische System wusste um seine Gefährdung. Wieder und wieder beschworen die Dramen das anarchistische Potenzial. Die Spannung zwischen Ideal und Realität war sicher schwer auszutarieren.

Und doch könnte gerade in dieser Doppelnatur der Wahrnehmung und des Urteils ein Geheimnis des europäischen Systems liegen. Eines Systems, das den inneren Widerspruch gleichsam eingebaut und die Ambivalenz zur Signatur hat. Wenn alles gut geht, können aus dieser Mixtur hellwache, autonome Wesen hervorgehen, die sich nicht leicht für dumm verkaufen lassen und die Koordinaten ihrer Wahrnehmung im Blick behalten. Falls die Balance verloren geht, droht bei diesem gewagten kollektiven Hochseilakt der Absturz, zumindest aber ein Abgleiten in Schizophrenie oder Paranoia. Quelle: „Europa“ von Jürgen Wertheimer

Von Hans Klumbies