Ein Erlebnis beschreibt die subjektive Wahrnehmung

Der Gedanke, dass jede Gruppe ihre eigene Identität hat, die Außenstehenden nicht zugänglich ist, spiegelt sich im Gebrauch des Begriffs „gelebte Erfahrung“ wider. Dieser ist seit den siebziger Jahren in der Populärkultur explosionsartig gewachsen. Francis Fukuyama stellt fest: „Die Unterscheidung zwischen Erfahrung und Erlebnis beschäftigte eine Reihe von Denkern im 19. Jahrhundert.“ Erfahrung kann man teilen, wenn man etwa chemische Experimente in unterschiedlichen Laboratorien nachstellt. Erlebnis dagegen beschreibt die subjektive Wahrnehmung von Erfahrungen, die sich nicht unbedingt teilen lassen. Der Schriftsteller Walter Benjamin war der Ansicht, dass sich die Moderne aus „Schockerfahrungen“ zusammensetzt. Diese hindern die Individuen daran, ihr Leben als Ganzes zu sehen und erschweren es, Erlebnis in Erfahrung umzuwandeln. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

Frauen erleben Erfahrungen anders als Männer

Den Zerfall des kollektiven Gedächtnisses in individuelle Erfahrungen betrachtete Walter Benjamin als „neues Barbarentum“. Francis Fukuyama blickt in die Vergangenheit: „Ein solcher Gedankengang führt letztlich zu Jean-Jacques Rousseau zurück. Dieser stellte durch seine Hervorhebung des „Existenzgefühls“ subjektive innere Empfindungen über die geteilten Normen und Einsichten der umgebenden Gesellschaft.“ Der Begriff „gelebte Erfahrung“ ging durch Simone de Beauvoir in die englische Sprache ein.

Der zweite Teil ihres Buchs „Das andere Geschlecht“ trug diesen Titel. Die gelebte Erfahrung von Frauen sei nicht die von Männern, schrieb sie. Durch subjektive weibliche Erfahrungen erhöhe sich das Profil der Subjektivität als solcher. Das gelte auch für andere Gruppen und Kategorien, die auf Rasse, Ethnizität, sexueller Orientierung, Behinderung und dergleichen beruhten. Innerhalb jeder dieser Kategorien finde man unterschiedliche gelebte Erfahrungen. Die von Schwulen und Lesben seien beispielsweise anders als die von Transgendern.

Die Modernisierung löst das Identitätsproblem erst aus

Die neue Prominenz der gelebten Erfahrung entspricht dem breiteren Charakter der langfristigen Modernisierung. Diese löste das Identitätsproblem jedoch erst aus. Die Modernisierung ist geprägt von einer komplexen Gesellschaft mit einer ausgeklügelten Arbeitsteilung und einer ausgeprägten persönlichen Mobilität. Die Verlagerung vom Dorf in die Stadt erzeugt dabei einen facettenreichen Pluralismus nebeneinanderwohnender Individuen. In zeitgenössischen Gesellschaften wurde dieser Wandel durch moderne Kommunikationstechniken und soziale Medien vertieft.

Geistesverwandte Individuen können sich jetzt an separaten Orten miteinander austauschen. In einer derartigen Welt vervielfachen sich gelebte Erfahrungen und folglich Identitäten exponentiell. Dies trifft ebenso auf die YouTube-Stars und Facebook-Gruppen im Internet zu. Ebenso rasch wird die altmodische Erfahrung diskreditiert. Das heißt die Möglichkeit, Standpunkte und Gefühle über Gruppengrenzen hinweg zu teilen. Der Begriff „Multikulturalismus“, der ursprünglich bloß dazu diente, vielfältige Gesellschaften zu beschreiben, ist zu einem Etikett für ein politisches Programm geworden. Dieses schätzt jede separate Kultur und jede gelebte Erfahrung gleichermaßen. Quelle: „Identität“ von Francis Fukuyama

Von Hans Klumbies