José Ortega Y Gasset erforscht das Denken

Das Denken ist für José Ortega Y Gasset eine Lebensfunktion wie die Verdauung und der Blutkreislauf. Ein Urteilsakt ist ein Elementarteilchen des menschlichen Lebens, ein Willensakt nicht minder. Sie sind Ausstrahlungen oder Momente in dem kleinen menschlichen Kosmos, dem organischen Lebewesen. Das Denken ist ein Vorgang wie die Nahrungsaufnahme oder die Arbeit des Herzens, wenn es das Blut durch die Adern pumpt. In allen diesen Fällen handelt es sich um vitale Notwendigkeiten. In einem Menschen als organischem Wesen liegen der Seinsgrund und die Rechtfertigung seines Denkens beschlossen. Das Denken ist ein Instrument, ein Organ des Menschen und wird vom Leben reguliert und gelenkt.

Das zweifache Gesicht des Denkens

Die Tatsache, dass sich die Menschen manchmal irren, ist für José Ortega Y Gasset nur ein Beweis mehr dafür, dass das Denken den Normen Wahr und Falsch untergeordnet ist. Er definiert den Irrtum als gescheitertes Denken. Er schreibt: „Aufgabe des Denkens ist, die Welt der Dinge widerzuspiegeln, sich ihnen anzupassen; kurz, Denken heißt: wahres Denken, wie Verdauung heißt: die Nahrung assimilieren.“ Der Irrtum hebt den Wahrheitscharakter des Denkens nicht auf, wie eine Verdauungsstörung den normalen Assimilationsprozess nicht auslöscht.

Laut José Ortega Y Gasset hat das Phänomen des Denkens ein zweifaches Gesicht: einerseits ist es für den Menschen eine vitale Notwendigkeit und wird von dem Gesetz des subjektiven Nutzens beherrscht; andererseits hat es die Aufgabe, sich den Gegenständen anzupassen und ist damit dem objektiven Gesetz der Wahrheit unterstellt. Dasselbe gilt für den Vorgang des Wollens. Der Willensakt schnellt aus dem Zentrum einer Person hervor. Er ist ein energiegeladener Ausbruch, ein Impuls, der von den organischen Tiefen des Körpers gespeist wird.

Der Mensch muss die Wahrheit denken

Wenn das Denken dem Menschen eine von der Wirklichkeit abweichende Welt vorgaukeln und ihn zu unaufhörlichen praktischen Irrtümer verleiten würde, wäre das menschliche Leben längst aus der Welt verschwunden. Aber auch umgekehrt existiert die Wahrheit laut José Ortega Y Gasset nicht, wenn der Mensch sie nicht denkt, wenn nicht sein organisches Dasein jenen geistigen Akt mit seiner unvermeidlichen Färbung persönlicher Überzeugtheit aus sich entlässt.

Ortega Y Gasset schreibt: „Um wahr zu sein, muss das Denken in gewissen Korrelationen zu den Objekten stehen, zu dem, was mir transzendent ist; aber um zu existieren, muss es zugleich von mir gedacht werden, muss ich für seine Wahrheit eintreten, ihm einen Platz in meinem Leben einräumen, es einbeziehen in die kleine biologische Welt, die ich bin.“

Von Hans Klumbies