Die eigene Identität ist durch die Pluralisierung bedroht

Alle pluralisierten Schauplätze verdoppeln sich. Wahlweise könnte man auch sagen, dass sie sich spalten. Isolde Charim nennt als Beispiel die Identität. Der Schriftsteller Navid Kermani meinte in einem Interview, die Menschen im Westen leben heute „in einem fragilen Gleichgewicht“, das ständig bedroht sei durch die unterschiedlichen Identitäten. Denn, so Navid Kermani, „Identität bildet sich selbst im friedlichen Fall in Abgrenzung von anderen heraus“. So unmittelbar einleuchtend dieser Satz auch zu sein scheint – für eine pluralistische Gesellschaft trifft er nicht ganz zu. Nicht weil pluralisierte Gesellschaften sich so an ihrer Buntheit und Vielfalt erfreuen würden, dass sie im Taumel einer umfassenden Umarmung versinken würden. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

Der eigene Weltzugang könnte auch ein ganz anderer sein

Isolde Charim stellt fest: „In Gesellschaften mit großer Diversität bilden sich Identitäten eben nicht (nur) in Abgrenzung von anderen heraus.“ Sie bilden sich auch durch die Eingrenzung der eigenen Identität heraus. Das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen lässt einen die eigene Überzeugung, die eigene Identität, den eigenen Glauben als einen unter anderen erfahren. Pluralisierung ist in erster Linie also eine Erfahrung, dass die eigene Identität nicht selbstverständlich ist.

Es ist die Erfahrung, dass das Eigenen heute einer Entscheidung bedarf – die Erfahrung also, dass das eigene Leben, der eigene Weltzugang auch ein ganz anderer sein könnte. Es ist ein Einbruch der Kontingenz, also der Einbruch von Offenheit und Ungewissheit, ins Herz jeder Identität. Dieser tiefgreifenden Erfahrung entgeht heute kein Mensch, der in den Staaten der Moderne des Westens lebt. Sie erreicht alle. Sie verändert das Selbstverständnis – unbemerkt, aber grundlegend. Sie alle sind heute pluralisierte Individuen. Individuen also, deren Identität eingegrenzt ist. Und genau in dieser Erfahrung wirkt etwas Neues, das man die „unsichtbare Hand der Pluralisierung“ nennten könnte.

Die Pluralisierung verändert die Figur des Gläubigen

Die Pluralisierung verlangt den Religionen einen schwierigen Balanceakt ab. Einerseits bedeutet Religion Glaube an eine Wahrheit, an eine göttliche Wahrheit, die von keiner Instanz in Frage zu stellen ist. Andererseits aber stehen diese Glaubenswahrheiten heute, in einer pluralisierten Gesellschaft, nebeneinander. Nebeneinander bedeutet auch: in einer gewissen sichtbaren Situation der Konkurrenz. Dieser Balanceakt verändert zudem die Figur des Gläubigen.

Die Pluralisierung verlangt jedem Gläubigen, eben angesichts all der anderen offensichtlichen Möglichkeiten, eine Entscheidung für seinen Glauben ab. Das Christentum hat lange Zeit im Westen in der Position einer Staatsreligion gelebt. Da bedurfte es keiner Entscheidung für den Glauben. Heute aber bedürfen sowohl Mehrheits- als auch Minderheitsreligionen einer solchen, einer Entscheidung ihrer Gläubigen. In diesem Sinne sind in einer pluralisierten Gesellschaft eben alle Religionen zu Konvertitenreligionen geworden. Quelle: „Ich und die Anderen“ von Isolde Charim

Von Hans Klumbies