In Narrationen teilt man die Erfahrungen anderer

Warum verbringen Menschen so viel Zeit mit Narrationen? Damit meint Fritz Breithaupt nicht nur die Filme, die man sich reinzieht, und die Bücher, die man liest. Sondern er zählt auch die vielen Unterhaltungen dazu, die Menschen darüber führen, wer was mit wem gemacht hat, die Posts in den sozialen Medien sowie die eigenen Gedanken dazu. Die Antwort auf diese erste Frage ist für Fritz Breithaupt einfach: „In Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen. Das ist möglich, weil wir uns in Narrationen ja an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich „ihre“ Erfahrungen selbst machen.“ Und zugleich kommt man durch Narrationen in den Genuss, auch das Verbotene einmal zu erproben. Fritz Breithaupt ist Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an der Indiana University in Bloomington.

Narratives Denken bietet einen echten Überlebensvorteil

Doch mit Narrationen kann man eben dies: Man kann die Erfahrungen machen und zugleich die Handlungen nicht ausführen. Man verdoppelt sozusagen sein Leben. Man kann auch bereits Getanes ein zweites Mal miterleben oder sich eine geplante Handlung vor Augen führen. Die Spannbreite reicht von minimalen Reaktionen bis zu den großen Lebensentscheidungen. Insofern ist narratives Denken ein großartiges Medium des Erlebens und Planens.

Man muss kein Evolutionsbiologe sein, um zu erkennen, dass narratives Denken einen echten Überlebensvorteil bietet. Fritz Breithaupt erklärt: „Wir sind auf mehr Lebenssituationen vorbereitet und können künftiges Handeln planen. Wir lernen alle voneinander und uns gelingt dabei etwas Unglaubliches. Die Erfahrungen von einem Menschen können zu den Erfahrungen von anderen Menschen werden.“ Menschen sind keine Einzelwesen, sondern ein Netzwerk von Individuen. Sie multiplizieren ihre Erfahrungen ständig. Doch hier stellt sich eine zweite Frage: Warum lassen sich Menschen auf dieses narrative Denken ein?

Narrationen machen in gewissem Sinne süchtig

Fritz Breithaupt antwortet: „Nur weil etwas uns Selektionsvorteile verschafft, machen wir es nicht.“ Denn nicht alles, was man tut, ist in evolutionärer Hinsicht sinnvoll. Fritz Breithaupt wagt es etwa zu bezweifeln, dass die hier in den USA beliebtesten Nahrungsmittel seinen Mitbürgern guttun. Menschen lassen sich auf das narrative Denken ein, weil es sie mit dem Erleben von Emotionen belohnt. Die jeweilige Emotion ist an sich bereits etwas, das man positiv bewertet.

Und zugleich haben die meisten Emotionen auch je eigene Stoppfunktionen, die es Menschen erlauben, aus der Narration auszusteigen. Die narrativen Emotionen, von denen in dem Buch „Das narrative Gehirn“ von Fritz Breithaupt die Rede ist, bestimmen, wie Menschen leben und auch wie sie gut leben. Eine weitere These besagt, dass Narrationen Menschen in einem gewissen Sinne süchtig machen. Oder vorsichtiger gesagt: „Bestimmte narrative Abfolgen prägen sich uns so sehr ein, dass wir sie immer wieder aufsuchen und uns an sie gewöhnen.“ Quelle: „Das narrative Gehirn“ von Fritz Breithaupt

Von Hans Klumbies