Die Konkurrenz zwischen Philosophie und Mythos

Philosophie wird im Allgemeinen mit dem rationalen Denken gleichgesetzt. Fassbar wird dies am ehesten in der Abgrenzung von seinem Gegenteil. Geschichtlich hat sich die Philosophie als Gegenspieler des Mythos entwickelt. Der Mythos lässt sich als Rede, Wort, Sage oder Erzählung interpretieren. Es gibt bei dieser Gattung keinen Autor, die Geschichten wurden von Generation zu Generation überliefert. Der Mythos gilt als selbstverständlich Autorität, dessen Schöpfer unbekannt ist. Als eine Lehre von der Entstehung der Welt entwirft er eine umfassende Deutung der Welt. Die einzelne Sage erklärt bestimmte Vorgänge in der Natur oder Erscheinungen des Lebens überhaupt. So werden beispielsweise im ägyptischen Mythos von Isis und ihrem Bruder Osiris das Werden und Vergehen im ewigen Kreislauf des Jahres dargestellt.

Die Geburt der Philosophie

Im biblischen Gleichnis von Paradies und Sündenfall wird die Verflechtung von Selbstbewusstsein und Schuld gedeutet. Allen Sagen und Mythen ist wesentlich, dass Göttliches, Menschliches und Natur immer im Zusammenhang gesehen und nicht als voneinander losgelöste Sphären betrachtet werden. Wie in den Träumen bleiben die Übergänge fließend, denn das Weltall wird immer als eine Einheit aller in ihm wirkender Kräfte aufgefasst. Man sollte sich davor hüten, den Mythos als irrational zu verunglimpfen, denn das mythische Denken hat seine eigene Vernunft. Es ist eine einheitliche Denkform, die ausgeprägte, charakteristische Züge aufweist.

Die Geburt der Philosophie lässt sich als das allmähliche Überwinden, Verdrängen oder Ersetzen des Mythos durch eine andere Form des Denkens erklären. Dieser Prozess ist von vielen Zwischenstufen geprägt, in denen sich Altes und Neues auf vielfältige Weise mischt, wobei sich die Unterschiede kaum erkennen lassen. In der Geschichte der Philosophie werden die ersten Philosophen, die im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus in Griechenland lebten, als Vorsokratiker bezeichnet: es waren Männer die in der Zeitepoche vor Sokrates gelebt haben.

Die Entstehung der Doxographie in der Philosophenschule des Aristoteles

Ihren absoluten Höhepunkt fand die griechische Philosophie in den genialen Denkern Platon und Aristoteles. Die Lehren der Vorsokratiker sind schwer zu bewerten, denn von den Texten dieser Weisen ist keiner vollständig überliefert worden. Die Quellenlage ist also äußerst dürftig. Erhalten geblieben ist nur ein chaotisches Flickwerk verstreuter Fragmente und Zitate. Hinzu kommen die Schriften über ihr Leben und Denken, die von späteren Autoren verfasst wurden. Aristoteles kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, da er vor der Positionierung seiner eigenen Ansichten, sich in der Regel mit den Meinungen seiner Vorgänger auseinandersetzte.

In der Philosophenschule des Aristoteles entstand auch die so genannte Doxographie, die systematische Sammlung der Ansichten früherer Philosophen zu einem bestimmten Problem. Aristoteles ging bei der Beschreibung der Ideen der Weisen natürlich von seinen eigenen Fragestellungen und Interessen aus. Sein Bild der Vorsokratiker prägte über einen langen Zeitraum die Vorstellungen der nachfolgenden Generationen über diese Epoche. Die wirklichen Zusammenhänge, die zur Geburt der Philosophie führten, sind allerdings nicht bekannt und blieben bis heute ein ungelöstes Rätsel.

Von Hans Klumbies