Der kulturelle Wandel hat die Menschen materialistischer gemacht

Der kulturelle Wandel in den modernen Staaten des Westens hat die Menschen verändert. Zunächst einmal hat er sie materialistischer gemacht. David Brooks nennt ein Beispiel: „Studenten legen heute mehr Wert auf Geld und beruflichen Erfolg.“ Im Jahr 1966 sagten 80 Prozent der amerikanischen Erstsemester, sie seien in einem hohen Maße motiviert, eine sinnvolle Lebensanschauung zu entwickeln. Heute sagen das weniger als die Hälfte von ihnen. Finanzielle Sicherheit dagegen, die ehedem als ein mittlerer Wert angesehen wurde, ist heute das oberste Ziel von Studenten. Die Gesellschaft von heute ist wesentlich individualistischer als diejenige des Jahres 1966. Wer glaubt, seine Schwächen nicht aus eigener Kraft überwinden zu können, ist bereit demütig Hilfe von außen anzunehmen. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.

Jedes Individuum muss seine eigene Weltsicht entwickeln

Aber wenn man selbstbewusst glaubt, die wahren Antworten ließen sich in dem wirklichen Selbst, der inneren Stimme, finden, dann lässt man sich tendenziell nicht so bereitwillig auf andere ein. Außerdem ist der Wunsch nach inniger Vertrautheit mit anderen verschwunden. Gleichzeitig ist das soziale Vertrauen verschwunden. Auch das Einfühlungsvermögen hat abgenommen – oder zumindest beschreiben sich Menschen selbst als weniger einfühlsam. Die öffentliche Sprache ist ebenfalls „entmoralisiert“ worden.

David Brooks stellt fest: „In diesem Zeitalter moralischer Selbstbestimmung wird von jedem Individuum erwartet, seine eigene Weltsicht zu entwickeln. Wenn man Aristoteles heißt, bringt man das vielleicht fertig. Wenn nicht, kann man das wahrscheinlich nicht.“ Wenn man glaubt, das letztgültige Orakel sei das Wahre Selbst im Innern, wird man zu einem Emotivisten – man trifft moralische Urteile auf der Grundlage der Gefühle, die in einer bestimmten Situation auftreten. Natürlich wird man dann auch zu einem Relativisten.

Die Moral wurde durch die Nützlichkeit ersetzt

Ein Wahres Selbst hat keine Grundlage, um mit einem anderen Wahren Selbst zu argumentieren oder es zu beurteilen. Natürlich wird man dann auch zu einem Individualisten, da der letztendliche Schiedsrichter das authentische Selbst im Innern und kein gesellschaftlicher Maßstab oder Bedeutungshorizont im Außen ist. Natürlich verliert man auch den Kontakt zu dem moralischen Vokabular, das man benötigt, um über Fragen der Moral nachzudenken. Zudem wird das Innenleben flacher. Der mentale Raum, der ehedem von dem moralischen Ringen beansprucht wurde, ist nach und nach vom Erfolgsstreben eingenommen worden. Die Moral wurde durch die Nützlichkeit ersetzt.

Manche Menschen erkennen, dass das Gesellschaftssystem, dem sie angehören, sie dazu drängt, eine Art ungenügendes äußeres Leben zu führen. Und sie haben die Zeit, dies zu berichtigen. Die Frage ist: Wie? Die Antwort muss lauten: Dadurch, dass sie sich, zumindest teilweise, der vorherrschenden Kultur widersetzen. Dadurch, dass sie sich einer Gegenkultur anschließen. Es ist vermutlich notwendig, mit einem Fuß in der Welt des Erfolgs zu stehen, mit dem anderen Fuß jedoch in einer Gegenkultur, die in einem Spannungsverhältnis zum Leistungsethos steht. Quelle: „Charakter“ von David Brooks

Von Hans Klumbies