Lügen sind von Fakten schwer zu unterscheiden

Die alten Printmedien und Sendeanstalten öffneten den Raum für ein homogenes nationales Gespräch. Anne Applebaum kritisiert: „In vielen Demokratien gibt es heute keine gemeinsame Debatte mehr, von einer gemeinsamen Erzählung ganz zu schweigen.“ Menschen hatten immer unterschiedliche Ansichten. Heute haben sie unterschiedliche Tatsachen. In einer Informationssphäre ohne politische, kulturelle oder moralische Autorität ist es schwer, Verschwörungstheorien von Fakten zu unterscheiden. Falsche, parteiliche und oftmals bewusst irreführende Erzählungen verbreiten sich heute wie digitale Lauffeuer. Und die Lügenkaskaden sind zu schnell, als das Faktenchecker noch mithalten könnten. Und selbst wenn sie es könnten, spielt das keine Rolle mehr. Viele Menschen würden niemals eine Website von Faktenchecker besuchen, und wenn doch, dann würden sie ihnen keinen Glauben schenken. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Algorithmen fördern die falsche Wahrnehmung der Welt

Das Problem geht jedoch über Lügen, verdrehte Tatsachen, Wahlkampagnen und Meinungsmacher hinaus. Anne Applebaum weiß: „Die Algorithmen der sozialen Medien selbst fördern die falsche Wahrnehmung der Welt. Die Menschen klicken die Nachrichten an, die sie sehen wollen.“ Daraufhin zeigen ihnen Facebook, YouTube und Google mehr von dem, was ihnen gefällt. Es ist egal, ob es sich dabei um eine bestimmte Seifenmarke oder um eine politische Ansicht handelt.

Auf diese Weise radikalisieren die Algorithmen die Nutzer. Wer sich auf YouTube völlig legitime Videos von Migrationsgegnern ansieht, landet mit wenigen Klicks auf den Seiten von Rechtsradikalen und gewalttätigen Fremdenhassern. Weil die Algorithmen darauf ausgerichtet sind, Menschen möglichst lange im Internet festzuhalten, begünstigen sie Emotionen, vor allem Wut und Angst. Und weil die Seiten süchtig machen, beeinflussen sie Menschen auf eine Weise, die nicht zu erwarten war.

Das Misstrauen gegenüber der Politik nimmt zu

Anne Applebaum stellt fest: „Wut wird zur Gewohnheit. Spaltung wird normal. Auch wenn im Westen die sozialen Medien noch nicht die wichtigste Nachrichtenquelle sind, haben sie großen Einfluss darauf, wie Politiker und Journalisten die Welt interpretieren und darstellen.“ Die Polarisierung im Internet ist längst in der Wirklichkeit angekommen. Das Ergebnis ist eine verschärfte Lagerbildung. Diese schürt das Misstrauen gegenüber der Politik und den demokratischen Institutionen.

Mit zunehmender Polarisierung geraten Beamte und staatliche Angestellt zunehmend zwischen die politischen Fronten. Denn sie stehen im Verdacht, von der Gegenseite vereinnahmt worden zu sein. Es kommt nicht von ungefähr, das PiS, Brexiteers und Trump-Regierung Beamte und Diplomaten angreifen. Es ist kein Zufall, dass in vielen Ländern Richter und Gerichte zur Zielscheibe von Kritik, Anfeindung und Wut werden. In einer polarisierten Welt gibt es keine Neutralität, denn es gibt keine überparteilichen und apolitischen Institutionen. Quelle: „Die Verlockung des Autoritären“ von Anne Applebaum

Von Hans Klumbies