Deutschlands Politiker sind strategische Pygmäen

Die modere Politik, wie sie derzeit fast überall in Europa vorherrscht, ist gekennzeichnet durch den Verzicht von Ethos zugunsten taktischer Klugheit und höchst flexibler Grundsätze. Richard David Precht fügt hinzu: „In diesem Sinne erscheint es nur als konsequent, den Technokraten selbst das Regieren zu überlassen. Solche Technokraten tun nichts, was sie nicht meinen genau abschätzen zu können.“ Sie haben auch keine Inhalte oder Themen, sondern Inhalte und Themen kommen durch die Massenmedien auf sie zu: Finanzkrise, Schuldenkrise, Bespitzelungsaffäre, Migrationskrise. Nichts davon ist geahnt, nichts gewusst. Weil nirgendwo auf die Zukunft hin geplant und nach Überzeugungen gestaltet wird, erwartet die Politik die Themen wie das Wetter – die Diktatur der Gegenwart über die übrige Zeit; alles bewegt, nichts verändert sich. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

Die Politik hat ihre konstruktive Kraft verloren

Die Utopie der konstruktiven Kraft der Politik aber bleibt verschwunden. Wie wir in Zukunft leben werden, bestimmen kaum mehr Politiker, sondern Visionäre und Utopisten der digitalen Revolution: Google, Facebook, Amazon, Apple, Microsoft und Samsung. Richard David Precht stellt fest: „Gegen diese digitalen Supermächte sind Deutschlands Politiker strategische Pygmäen. Die Macht haben sie sich schon lange aus den Händen nehmen lassen.“

Die Kultur lebt bekanntlich nicht von wertfreien Beschreibungen all dessen, was in ihr vorgeht, sondern von Deutungen, Interpretationen, Gewichtungen, Vorzügen, vom Achten und Ächten, von Akzeptanz und Nicht-Akzeptanz. Erstaunlicherweise aber wird die Digitalisierung von vielen Politikern kaum ernsthaft moralisch bewertet oder auch nur ausgedeutet. Richard David Precht kritisiert: „Stattdessen haben wir es bei den Liberalen mit einer erschreckend naiven Bejahung, in Teilen der Linkspartei mit einer pauschalen Ablehnung und bei den anderen Parteien mit erschreckend wenigen Bewertungen zu tun.“

Reines Effizienzdenken kann kein Maßstab für eine Kultur sein

Was in der Politik fehlt, ist eine differenzierte Haltung. Immerhin nimmt die digitale Revolution Menschen und Völkern einen großen Teil ihrer bekannten Welt, einschließlich der damit verbundenen Gefühlswelt. Erfahrungen und Kenntnisse des Lebens, die Jahrzehnte, mitunter Jahrhunderte galten, gelten nicht mehr. Kulturen und Zivilisationen leben sowohl von Fakten als auch von Werten, und das Moralische, das Soziale, das Geistige und das Politische sind nicht dadurch hinfällig, weil sie in den digitalen Leitideologien nicht mehr vorkommen.

Jede Kultur muss sich danach befragen lassen, ob sie die Menschen glücklicher macht, vielleicht auch klüger, freundlicher und kultivierter. Das reine Effizienzdenken und die Verwertungslogik des Kapitals dürfen niemals alleiniger Maßstab einer Kultur sein. Wenn die Forschung eines aus der Geschichte der ersten industriellen Revolution gelernt hat, dann dies: Der rein ökonomische Maßstab als Maß aller Dinge ist unmoralisch. Er führt unweigerlich in die Inhumanität. Quelle: „Jäger, Hirten, Kritiker“ von Richard David Precht

Von Hans Klumbies