Es bahnt sich ein Europa der zwei Geschwindigkeiten an

Die Macht über die Staatsfinanzen ist für den Historiker Hans-Ulrich Wehler historisch der Kernbestand, der von allen demokratischen Parlamenten verteidigt wird. In den Ländern Europas ist eine skeptische Abneigung dagegen gegeben, die Verfügungsgewalt über das Staatsbudget abzutreten. Laut Hans-Ulrich Wehler gibt es aber in den letzten eineinhalb Jahren mit der Europäischen Zentralbank eine Art von informeller Wirtschaftsregierung in Europa. Er erklärt: „Sie kauft Staatsanleihen von wackligen Staaten wie Griechenland, Portugal, Irland auf und greift in diesem Sinne schon in das Souveränitätsrecht der Länder ein.“ Die angestrebte Fiskalunion in Europa würde seiner Meinung nach noch eine stärkere Formalisierung bedeuten, denn man müsste dann eine politische Instanz bilden, die die Finanzlage der einzelnen Staaten kontrollieren und gegebenenfalls korrigieren kann.

Europa braucht eine Schuldenbremse und die Regulierung der Finanzmärkte

Die Schwierigkeit für Angela Merkel und Nicolas Sarkozy und den Rest Europas sieht Hans-Ulrich Wehler in der Tatsache, dass ein Gutteil der Souveränitätsrechte notwendigerweise abgetreten werden müssen. Ein Problem besteht für den Historiker auch darin, wie die Europäische Union staats- und völkerrechtlich definiert werden soll. Für ihn ist sie eine Föderation, die von Anfang an, dann im Laufe der Zeit immer mehr, Rechte an die Brüsseler Kommission abgetreten hat.

Hans-Ulrich Wehler erklärt: „Man muss sich klarmachen, dass rund sechzig Prozent der Rechtsmaterien, die im Bundestag beraten werden, aus Brüssel kommen. Die werden dann gewissermaßen nur noch in nationales Recht übersetzt.“ In der aktuellen Situation in Europa stellt sich die Frage, ob die Völker, die von außen erzwungenen Entscheidungen ihrer Regierungen noch mittragen werden. Um die aktuelle Krise zu entschärfen, brauchen die Länder Europas gemäß Hans-Ulrich Wehler sowohl eine Schuldenbremse als auch eine echte Regulierung der Finanzmärkte.

Eine Fiskalunion in Europa wäre ein epochaler Durchbruch

Der Historiker ist davon überzeugt, dass Deutschland entschlossen auf Reformkurs gehen und selbst Rechte nach Brüssel abgeben muss, wenn dies auch im Rest Europas funktionieren soll. Er sagt: „In der Tat hat Deutschland einen enormen Exportzuwachs geschafft. Deswegen gibt es auch die Erwartung an Deutschland: Ihr habt euch so viel Geld reingeschaufelt, jetzt müsst ihr auch zu eurer Dominanz stehen und mehr opfern, um die anderen mit durchzuziehen.“

Hans-Ulrich Wehler glaubt, dass so etwas wie ein Europa der zwei Geschwindigkeiten unvermeidlich werden könnte. Er erklärt: „Ein reformfähiges Kerneuropa, vielleicht auch mit Polen und Estland dabei, könnte sich zur Stabilisierung der Währung zusammentun, um die schwächeren Länder der Peripherie langsam aufzubauen.“ Für Hans-Ulrich Wehler wäre es ein epochaler Durchbruch, wenn jetzt in Europa eine Zentralisierung der Entscheidungen gelingen, der einen unwiderruflichen Weg zur Fiskalunion beziehungsweise einer formellen Wirtschaftsregierung bedeuten würde.

Von Hans Klumbies