Die Geschichte nimmt oft völlig unvorhersehbare Wendungen

Der Welthandel, die Weltreiche und die Weltreligionen haben den Menschen irgendwann in fast jeden Winkel der Erde in der globalisierten Welt von heute geführt. Der Weg war zwar beschwerlich und voller Hürden, doch auf lange Sicht war der Übergang von vielen kleinen auf wenige große Kulturen und schließlich zu einer Weltkultur vorprogrammiert. Was laut Yuval Noah Harari allerdings nicht heißen soll, dass die globalisierte Gesellschaft in ihrer heutigen Form unvermeidlich war. Seiner Meinung nach wären andere Varianten genauso möglich gewesen. Um den Verlauf und das vorläufige Endergebnis der Weltgeschichte besser zu verstehen, rät Yuval Noah Harari sich entscheidende Eigenschaften der Geschichte näher anzusehen. Yuval Noah Harari ist Professor für Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem.

In die Zukunft führt eine unendliche Zahl von möglichen Wegen

Eine Eigenschaft der Geschichte ist, dass sie sich nicht im Rückblick erklären lässt. Denn jeder beliebige Moment der Geschichte ist ein Scheideweg. Yuval Noah Harari erklärt: „Eine einzige Straße führt von der Vergangenheit in die Gegenwart, doch in die Zukunft führt eine unendliche Zahl von möglichen Wegen. Einige sind breiter und besser ausgeschildert als andere, weshalb wir sie mit größerer Wahrscheinlichkeit einschlagen, aber oft nimmt die Geschichte völlig unvorhersehbare Wendungen.“

Die Historiker können über den Verlauf der Geschichte nur Vermutungen anstellen, aber keine Antworten geben. Sie können beispielsweise beschreiben, wie die Christen die Vorherrschaft im Römischen Reich übernommen haben, aber sie können nicht erklären, warum ausgerechnet diese Möglichkeit verwirklicht wurde. Um das Wie zu beschreiben, muss eine Abfolge von bestimmten Ereignissen rekonstruiert werden, die von einem Ereignis zum anderen führten. Aber um das Warum zu erklären, müsste man die Ursachen ergründen, die dafür verantwortlich sind, dass genau diese Abfolge von Begebenheiten eintrat und keine andere.

Oft werden sogar die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten Wirklichkeit

Daneben tritt eine scheinbare Widersprüchlichkeit auf: Je mehr man nämlich über eine historische Epoche weiß, umso schwieriger wird es zu erklären, warum die Ereignisse diesen Verlauf nahmen und keinen anderen. Denn wer sich gut in einer bestimmten Epoche auskennt, dem sind auch einige Wege bekannt, die nicht eingeschlagen wurden. Yuval Noah Harari fügt hinzu: „Diejenigen, die eine Epoche am besten kennen – die Menschen, die sie selbst erlebt haben –, verstehen meistens am allerwenigsten, warum die Geschichte diese Wendung nahm und keine andere.“

Yuval Noah Harari weist nachdrücklich darauf hin, dass man gar nicht genug betonen kann, dass oft die scheinbar unwahrscheinlichsten Möglichkeiten Wirklichkeit werden. Natürlich ist nicht alles möglich. Geographische, biologische und wirtschaftliche Kräfte schaffen Zwänge, die sich nicht einfach ignorieren lassen. Doch auch diese Zwänge lassen erstaunlich viel Raum für überraschende Geschichtswendungen. Vielen Menschen gefällt diese Vorstellung nicht, denn es wäre ihnen lieber, wenn die Geschichte vorherbestimmt wäre.

Von Hans Klumbies