Die Erinnerung ist die Schwester des kritischen Bewusstseins

Die Geschichtsschreibung ist eine uralte Form der Dokumentation der Vergangenheit. Als Beispiele für frühe Dokumentoren nennt Helmut Reuter Caesar, Tacitus und Herodot. Eine solche Arbeit hat mehrere Funktionen, die offenen und versteckten Zielsetzungen, Ideologien oder Zeitstilen folgen. Die Geschichtswissenschaft erklärt, welche Akzente dabei eine Rolle spielen und wie diese Akzente sich abhängig vom gesellschaftlichen und politischen Wandel verbünden können. Als Beispiel nennt Helmut Reuter zunächst die Geschichte der großen Männer, eine weit bis in das 20. Jahrhundert als selbstverständlich verwendete Form der Darstellung. Neueren Datums ist dagegen die Beschreibung des sozialen Wandels einer Gesellschaft, oft mit einem deutlichen Akzent von unten. Damit sind die Erzählungen und die Lebenserfahrungen des Alltags und der Menschen, die den Alltag gestalten, gemein. Helmut Reuter ist seit 2004 Professor am Institut für Psychologie und Kognitionsforschung (IPK) der Universität Bremen.

Erinnerung ist ein sehr subjektives Phänomen

Die Wissenschaftsgeschichte ist deswegen so wichtig, weil erst die Kenntnis, wie etwas geworden ist, wie der Verlauf der Zeit war, welche Einflussgrößen zu identifizieren sind, die Menschen in die Lage versetzt, Vorhandenes anders und neu zu sehen. Die Erinnerung ist für Helmut Reuter die Schwester des kritischen und alltagstauglichen Bewusstseins: „Sie misstraut den angebotenen Darstellungen und Deutungen und verlangt das, was sie schließlich ja auch ist: die subjektiv verantwortete Orientierung in der Welt.“

Helmut Reuter macht auf einige Besonderheiten der Erinnerung aufmerksam, auf deren Erforschung verschiedenste Psychologien im Laufe der Zeit Wert gelegt haben: „Erinnerung ist ein sehr subjektives Phänomen, das seinem Abgleich mit den Tatsachen nur selten standhält.“ Hinter dem Objektivitätsbegriff versteckt sich der unlösbare Anspruch auf eine objektiv begründbare Darstellbarkeit. Erinnerung und ihre unvermeidbare Subjektivität bedeutet allerdings nicht Willkür und Beliebigkeit, sondern hat, was die Fakten und die Zeugnisse betrifft, gewissen Standards zu genügen.

Wissenschaft ist ein kommunikativer Prozess

Der wichtigste dieser Standards ist laut Helmut Reuter die argumentative Transparenz, die einem zweiten Standard zuarbeitet: der Diskursfähigkeit. Wissenschaft, und das gilt für die Psychologie in besonderer Weise, ist ein kommunikativer Prozess. Die Stimmen im Diskurs schaffen in immer neuen Akzentuierungen neue Erkenntnisse, wobei deren beschränkte Lebensdauer als kennzeichnendes Element akzeptiert werden muss. Auch für die Geschichte der Psychologie gibt es einen Kanon von Selbstverständlichkeiten.

Eine Geschichte der Psychologie, die beispielsweise Lerntheorien oder die Tiefenpsychologien unerwähnt ließe, wäre keine. Helmut Reuter ergänzt: „Dasselbe gilt für den neueren Paradigmenwechsel im psychologischen Denken und Forschen in Richtung eines neurowissenschaftlichen Schwerpunkts. Durch die beständige Entwicklung des Faches ist für die Gegenwart somit die Notwendigkeit kontinuierlicher Fortschreibung gefordert, die sich nicht zuletzt in den überarbeiteten und erweiterten Auflagen bewährter Werke manifestiert.“

Von Hans Klumbies