Mit dem Wunsch, verstanden zu werden, ist immer das Verlangen nach Einverständnis, manchmal nach Verzeihen verbunden. „Ich verstehe Dich!“, „Ich habe Verständnis für Dich!“ Wer diese Sätze hört, muss laut Wilhelm Berger allerdings oft einen hohen Preis dafür bezahlen, nämlich den Preis der Abhängigkeit und der Unterwerfung. Die Tätigkeit des Verstehens steht seiner Meinung nach auch theoretisch in einer tiefen Ambivalenz. Prinzipiell gilt das Verstehen im Verhältnis zum Beschreiben als tief und im Verhältnis zum Erklären als weich. Wilhelm Berger erläutert: „Während das Erklären seinen Gegenstand als Objekt sieht und zu einem sicheren, definitiven Ergebnis kommen will, scheint das Verstehen von Zuwendung und gutem Willen getragen zu sein.“ Professor Wilhelm Berger lehrt am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Leben heißt die persönliche Einheit der Erlebnisse
Der französische Philosoph Jacques Derrida, der als Begründer und Hauptvertreter der Dekonstruktion gilt, zieht die Gutwilligkeit des Verstehens radikal in Zweifel. Wer auf den guten Willen des Verstehens trifft, ist seiner Meinung nach vom Ersticken bedroht. Und wo unmittelbar Gewalt im Spiel ist, hat es keinen Sinn mehr, überhaupt vom Verstehen zu sprechen. Die Disziplin des philosophischen Verstehens heißt Hermeneutik. Um den Geisteswissenschaften ihre eigene methodische Dignität zu geben, arbeitet der Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey den Gegensatz von Erklären und Verstehen heraus.
Wilhelm Dilthey schreibt in seinen „Ideen über eine beschreibenden und zergliedernde Psychologie“ folgendes: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Damit erklärt er das Verstehen zum wichtigsten Verfahren der Geisteswissenschaften, auf dem alle anderen Methoden aufbauen. Seele hat für Wilhelm Dilthey mit dem Erleben zu tun, einem Prozess, der immer offen ist in die Welt und gleichzeitig aus ihr zurückkehrt, und Leben heißt die persönliche Einheit der Erlebnisse. Das Verstehen ist auch eine der Methoden der Philosophie.
Verstehen ist die Seinsweise des Daseins selbst
Wilhelm Berger erklärt: „Die philosophische Hermeneutik im engeren Sinne versteht sich dann als Metatheorie: Ihr geht es um das Verstehen des Verstehens.“ Die hermeneutische Methode lässt sich auf alle möglichen, immer jedoch irgendwie fixierten Sinngebilde anwenden: auf Texte, auf Kunstwerke, auf historische und soziale Handlungen. Schon Friedrich Schleiermacher, protestantischer Theologe, Altphilologe, Philosoph, Publizist, Staatstheoretiker, Kirchenpolitiker und Pädagoge, hat die Methoden der bloßen Textinterpretation in dieser Weise verallgemeinert.
Die Fragen, was ein Autor gesagt und gemeint hat, auf welche Wahrheiten er gezielt hat, werden zu Fragen nach der ursprünglichen Form des Kunstwerks, den Absichten, die ein Künstler mit seinem Kunstwerk ausdrücken wollte, und dem ästhetischen Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks und schließlich zu den Fragen nach dem tatsächlichen Ablauf, den Intentionen und der Angemessenheit historischer und sozialer Handlungen. Für den deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer ist Verstehen nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjekts, sondern die Seinsweise des Daseins selbst. Quelle: „Was ist Philosophieren?“ von Wilhelm Berger
Von Hans Klumbies