Ulrich Schnabel spekuliert über den Reiz des Neuen

Für Ulrich Schnabel ist ein gewisser Wohlstand für die Zufriedenheit im Leben durchaus wichtig. Wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, fühlt sich selten glücklich. Zudem hängt das Glück von anderen Faktoren wie dem sozialen und familiären Umfeld, von der Zahl der Freunde und der Stabilität der Gesellschaft ab, in der eine Person lebt. Die Menschen in den modernen Industrienationen geraten auch deswegen unter Stress und in Zeitnot, weil sie mit dem Überangebot an Waren und den unzähligen Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, nicht mehr zurechtkommen. Ulrich Schnabel schreibt: „Das erklärt auch das Paradox, dass die Menschen im Allgemeinen umso mehr unter knapper Zeit leiden, je reicher sie sind.“ Ulrich Schnabel studierte Physik und Publizistik und arbeitet als Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „DIE ZEIT“.

Mit dem Wohlstand steigt auch die Zeitnot

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Daniel Hamermesh hat durch eine Untersuchung festgestellt, dass bei steigendem Wohlstand in der Regel auch die Klagen über Zeitnot zunehmen. Das hat damit zu tun, dass die Zeit umso wertvoller wird, je mehr jemand verdient. Ulrich Schnabel erklärt: „Wenn das Einkommen steigt, nehmen auch die Wünsche zu. Da aber nicht mehr Zeit bleibt, sie zu erfüllen, fühlt man sich umso mehr im Zeit-Stress.“ Verstärkt wird dieses Leiden seiner Meinung nach noch durch eine typische Eigenschaft des Menschen, nämlich seine ständige Gier nach Neuem.

Mit diesem Verlangen ist laut Ulrich Schnabel die Neigung verknüpft, das Bestehende gering zu achten. Ein neuer Luxus kann noch so aufregend sein, eine erstmals bewältigte Herausforderung noch so zu zufrieden machen oder eine neue Liebe Schmetterlinge im Bauch erzeugen – im Lauf der Zeit gewöhnt sich der Mensch selbst an das größte Glück. Ulrich Schnabel schreibt: „Wir beginnen es für selbstverständlich zu nehmen und streben alsbald danach, unseren Zustand weiter zu verbessern.“

Der unwiderstehliche Reiz des Neuen

Dabei handelt es sich um keine Charakterschwäche, sondern um einen grundlegenden biologischen Mechanismus. Jeder Spezies ist daran gelegen, nach Möglichkeit ihre Lage zu verbessern. Aber nur der homo sapiens entwickelt immer neue Wünsche und sucht und findet Wege, diese zu befriedigen. Ulrich Schnabel erklärt: „Neurobiologisch lässt sich dieser Drang am so genannten „Belohnungssystem“ festmachen, einer Ansammlung von Gehirnregionen, die immer dann aktiv werden, wenn uns etwas besonders Erfreuliches in Aussicht steht.“

Die positiven Gefühle im Gehirn werden dabei vor allem durch den Botenstoff Dopamin vermittelt, wobei dieser anscheinend nur angesichts neuer Belohnungsreize in besonderem Maße freigesetzt wird. Der Mensch strebt auch deshalb nach immer neuen Dingen, da sie ihm vorübergehend das Glück der Ausschüttung von Dopaminen verschaffen. Da dieser Zustand nicht lange anhält, sieht er sich bald wieder nach neuen Quellen der Lust um. Der Reiz des Neuen ist offenbar unwiderstehlich.

Von Hans Klumbies