Um 1900 begeisterte der Fortschritt die Deutschen

Das Symbol einer forcierten Veränderungsdynamik in Deutschland um 1900 war die moderne Großstadt, was am deutlichsten in Berlin zu beobachten war. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, der Berlin im Jahr 1892 besuchte, schrieb folgendes über die wachsende Metropole: „Es ist eine neue Stadt, die neueste, die ich je gesehen habe. Chicago nähme sich dagegen ehrwürdig aus, denn es gibt viele altaussehende Bezirke in Chicago, in Berlin jedoch nicht viele. Die Hauptmasse der Stadt macht den Eindruck, als sei sie vorige Woche erbaut worden.“ Ganze Stadtteile entstanden in Berlin um die Jahrhundertwende innerhalb weniger Jahre. Das Verkehrsaufkommen vervielfachte sich. Ein atemloses Tempo bestimmte das Leben. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Berlin verkörperte den Durchbruch der modernen Zeit

Die Reichshauptstadt repräsentierte in den Jahrzehnten um 1900 wie sonst nur London oder New York den Durchbruch der modernen Zeit. Ulrich Herbert erklärt: „Die rastlose Bautätigkeit, das Entstehen neuer, immer größerer und prächtigerer Kaufpaläste, die Verbreitung der modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel versinnbildlichten den durchgreifenden Optimismus im alltäglichen Leben. Die Erforschung der Natur und die Beherrschung der Technik, so glaubte man fest, würden den Fortschritt unbegrenzt machen.“

Werner von Siemens, einer der berühmtesten Erfinder und Unternehmer seiner Zeit, sagte über diese frohe Zukunftsgewissheit folgendes: „Unsere Forschungs- und Erfindungstätigkeit führt die Menschen höheren Kulturstufen zu, veredelt sie und macht sie idealen Bestrebungen zugänglicher. Das hereinbrechende naturwissenschaftliche Zeitalter wird ihre Lebensnot, ihr Siechtum mindern, ihren Lebensgenuss erhöhen, sie besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener machen.“ Daneben war es eine verbreitete Überzeugung, dass auch die Grundlagen von Staat und Gesellschaft auf den Prinzipien von Rationalität, Berechenbarkeit und technischer Vernunft neu geschaltet werden würden.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wuchs stetig

Aber die Wunderwerke von Technik und Organisation waren laut Ulrich Herbert nur eine Seite der Wahrnehmung der modernen Zeit. Zugleich standen die neuen Großstädte, und Berlin zumal, auch für die soziale Not der Industriearbeiter, für das weit verbreitete Wohnungselend und für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Ulrich Herbert erläutert: „Die soziale Frage stand im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten im Kaiserreich der Jahrhundertwende und wurde von den Arbeitern und der Arbeiterbewegung, die auf eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse drängten, thematisiert.

Aber auch das Bürgertum und der Adel diskutierten über diese Themen, da sie in solchen Forderungen eine Bedrohung ihrer Privilegien, ja des Staats- und Gemeinwesens insgesamt erblickten. Das Auseinanderdriften der Gesellschaft und den damit einhergehenden Kampf zwischen den sozialen Klassen sah vor allem das Bürgertum als offenkundigsten Nachteil der modernen Zeit an. Und deshalb entwickelten sich schon früh Überlegungen, wie man einer solchen Gefahr der Klassenspaltung durch die Betonung von nationaler Gemeinschaft entgegentreten könne.

Von Hans Klumbies