Symbolisches Denken führt zu Kunstwerken

Jeder schöpferische Akt ist eine Auflehnung gegen die Wirklichkeit, die den Menschen vertraut ist. Stefan Klein erläutert: „Wer die Welt verändern will, muss imstande sein zu sehen, was nicht ist, aber sein könnte. Als unsere Vorfahren vor drei Millionen Jahren die ersten Werkzeuge herstellten, hatten sie verstanden, dass Dinge nicht zwangsläufig die Gestalt haben, in der sie uns begegnen.“ Ein Feuersteinbrocken vermag in geschickten Händen die Form eines Faustkeils anzunehmen. Doch das geschieht nur, wenn der Verwandlung eine Vorstellung des künftigen Zustandes vorausgeht. Nur mit ihrer Vorstellungskraft konnten Menschen später symbolisches Denken entwickeln und die ersten Kunstwerke schaffen. Sie sprachen Kerbhölzern, Muscheln und verzierten Steinen Bedeutungen zu. Stefan Klein zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren der deutschen Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg.

Wissenschaftler verändern die Welt

Ohne die Fähigkeit, eine imaginäre Welt vor dem inneren Auge zu sehen, gäbe es keine Kultur. Die Pyramiden, das Parthenon und die chinesische Mauer waren Bilder in den Köpfen ihrer Erbauer, lange bevor die ersten Arbeiter anrückten. Wissenschaftler veränderten die Welt, indem sie sich Zusammenhänge ausmalten, die sie mit ihren Sinnen nicht wahrnehmen konnten. Niemand hat je die Bahnen der Planeten und die Linien der elektrischen Felder gesehen. Man versteht sie nur, weil man sie sich vorstellen kann.

Stefan Klein ergänzt: „Und politische Führer versammeln ihre Gefolgsleute nicht mit Argumenten. Vielmehr beschwören sie Bilder einer besseren Zukunft oder einer Bedrohung herauf. Ohne die Fähigkeit der Imagination könnten Gesellschaften nicht funktionieren.“ Woher haben Menschen dieses Vorstellungsvermögen? Die Betrachtung des Himmels, an der sich die Phantasie seit jeher kristallisiert, ist eine der besten Gelegenheiten zur Erkenntnis der eigenen inneren Bilder.

Die Imagination ist untrennbar mit der Wahrnehmung verbunden

Man muss nur mit wachem Bewusstsein den Aufgang eines Vollmondes beobachten, um Imagination als untrennbar von Wahrnehmung zu verstehen. An manchen Abenden scheint der Mond wie eine riesige Orange über dem Horizont zu schweben. Ein in warmen Farben leuchtender Ball, fast so groß wie ein Baum im Vordergrund und dabei zum Greifen nahe. Stefan Klein erklärt: „Natürlich wissen wir heute, dass ein mehr 350.000 Kilometer von uns entfernter Himmelskörper niemals einen so großen Teil unseres Gesichtsfeldes ausfüllen kann wie ein Objekt in unserer Nähe.“

Aber auf merkwürdige Weise empfindet man diese eigentlich unabweisbare Tatsache als unwahrscheinlich. Die Anschauung spricht zu deutlich dagegen. In solchen Momenten können selbst die nüchternsten Menschen all denen nachfühlen, die dem Mond magische Kräfte zuschreiben oder sich mondsüchtig nennen. Ein paar Stunden später erscheint der Vollmond wieder in seiner wahren optischen Größe. Hoch am Himmel, zwischen den Sternen, nimmt man ihn mit einem Durchmesser höchstens halb so groß wie am Anfang der Nacht wahr. Quelle: „Wie wir die Welt verändern“ von Stefan Klein

Von Hans Klumbies