Der Mensch ist ein rätselhaftes Wesen. Einen Großteil seines Lebens verbringt er damit, bewusst oder unbewusst zu entschlüsseln, was in den Mitmenschen oder in ihm selbst vor sich geht. Leonhard Schilbach, Psychiater und Neurowissenschaftler am Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie, erklärt: „Man kommt kaum aus dem Haus, ohne soziale Wahrnehmung und Kognition zu betreiben. Das sind Dinge, die den allermeisten Menschen ganz selbstverständlich vorkommen.“ Während die meisten Individuen im Alltag kaum darüber nachdenken müssen, wie flüssiger, sozialer Austausch mit anderen funktioniert, ist dies anders für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die oft mit Störungen der sozialen Interaktion einhergehen. Leonhard Schilbach interessiert sich insbesondere für Menschen mit Autismus, bei denen ein Mangel an sozialen Kompetenzen oft dazu führt, dass sie früher oder später mit sozialen Konventionen in Konflikt geraten.
Manchmal stößt das intuitive Verstehen an seine Grenzen
Der menschliche soziale Umgang miteinander wird größtenteils durch implizite Vereinbarungen und Konventionen geleitet, die für Menschen mit Autismus nur schwer zu erfassen sind. Leonhard Schilbach erläutert: „Autisten denken dann: Da ist ein Problem, darüber muss ich nachdenken. Aber das Interessante ist, dass Nachdenken hier gar nicht hilft. Das ist wie beim Fahrradfahren oder beim Zubinden von Schuhen. Diese Dinge werden dadurch nicht besser, dass ich gleichzeitig über sie nachdenke.“
Die Strategie, den mentalen Zustand anderer Menschen theoretisch reflektierend aus deren Verhalten abzuleiten, ist den allermeisten Individuen vertraut: Wenn man komplexes Verhalten vorherzusagen versucht, wägt man verschiedene mögliche Gründe, Motive und Risiken gegeneinander ab. Diese theoretische Perspektive nimmt man besonders in Situationen ein, in denen implizite, automatisierte Mechanismen nicht mehr funktionieren und das intuitive Verstehen an seine Grenzen stößt.
Das Blickverhalten prägt die soziale Interaktion
Leonhard Schilbach stellt fest: „Wenn man sich fragt, ob es für das Hirn einen Unterschied macht, ob Gesichter, die ich anschaue, auf mich reagieren, dann stellt man fest: es macht einen riesigen Unterschied. Menschen reagieren wahnsinnig sensibel darauf, ob eine andere Person sie anguckt.“ Schon bei Babys kann man beobachten, wie einfühlsam sie auf Interaktion reagieren und sich ihre Welt erschließen, lange bevor sie sich eine „Theorie des Geistes“ zurechtgelegt haben oder sich ausreichend selbst reflektieren.
Leonhard Schilbach betont: „Ich persönlich glaube, dass es kaum etwas Wichtigeres für soziale Interaktion gibt als das Blickverhalten.“ Bloße Gehirnscans werden aber wohl dennoch nie ausreichen, um Menschen im Allgemeinen und psychische Erkrankungen im Besonderen zu verstehen. Man braucht immer auch den Bezug auf den größeren sozialen Zusammenhang, nicht zuletzt deshalb, da die Definition einer Krankheit, die sich in nichtnormalem Verhalten äußert, immer den Bezug zum Normalen voraussetzt. Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Von Hans Klumbies